Blindwütig: Roman
Tastatur zu tippen.
Wie mühsam es gewesen sein musste, sich beizubringen, die richtigen Tasten zu finden, ohne jede Hilfe der Augen und mit Fingern, die nicht spüren konnten, was sie berührten!
Als er fertig war, wollte ich schon näher treten, um die Worte auf dem Bildschirm zu lesen, aber noch bevor ich den ersten Schritt tat, drückte er auf eine weitere Taste. Eine synthetische Stimme sprach aus, was er geschrieben hatte: »Ich bin ein großer Fan von Ihren Sachen. Hab Ihr neues Buch schon zur Hälfte durch. Fantastisch.«
Bella deutete auf ein Tischchen neben dem Sofa. Da lagen ein tragbarer CD-Spieler und die Hörbuchausgabe von One O’Clock Jump .
Seine Mutter hatte ihm schon erklärt, weshalb ich gekommen war. Er war nicht nur bereit, meine Fragen zu beantworten, sondern brannte sogar darauf, mir zu helfen.
In der gebotenen Kürze berichtete ich ihm, was Shearman Waxx uns bisher angetan hatte.
Am Telefon hatte Vivian Norby vorhin gemeint, Waxx lebe nicht nur sehr zurückgezogen, er sei nachgerade wie ein schwarzes Loch. Selbst nach stundenlangen Internetrecherchen hatte sie nicht mehr über ihn erfahren können als das, was wir bereits wussten.
Wer waren seine Eltern? Wo war er geboren? Wo war er zur Schule gegangen? Womit hatte er sein Geld verdient, bevor sein erstes Buch über kreatives Schreiben an so vielen Universitäten eingesetzt wurde und er sich als Literaturkritiker etabliert hatte? Selbst derart grundlegende Fragen konnten nicht beantwortet werden.
Frustriert hatte Vivian überlegt, ob Waxx wohl neben seinen Rezensionen weitere Texte unter einem Pseudonym veröffentlicht hatte. Deshalb hatte sie einige typische Formulierungen, die in seinen Rezensionen immer wieder auftauchten,
zu einer Suchanfrage zusammengefasst - und war tatsächlich auf einen Kunstkritiker namens Russell Bertrand gestoßen, der regelmäßig in der führenden Kunstzeitschrift des Landes publizierte.
Bertrand attackierte einige Maler und Bildhauer ebenso gehässig, wie Waxx manche Schriftsteller verfolgte. In seinen Artikeln fanden sich nicht nur dieselben Ausdrücke wie bei Waxx, sondern auch derselbe verquere Satzbau.
Als Vivian nach der Biografie des Kunstkritikers gesucht hatte, war da noch weniger zu finden gewesen als bei Waxx. Bei Google Earth gab es nicht einmal einen Hinweis auf sein Haus. Ein weiteres schwarzes Loch. Oder dasselbe.
Anschließend hatte Vivian sich im Archiv von Bertrands Aufsätzen nach Künstlern umgesehen, die er mit besonderer Vorliebe in der Luft zerriss. Einer von ihnen war Henry Casas in Smokeville, Kalifornien, gewesen.
Henry und Bella waren begeistert, wie viel wir bereits herausbekommen hatten, aber ich sagte warnend, sie sollten nicht zu viel erwarten und realistisch bleiben. Noch waren wir weit davon entfernt, beweisen zu können, dass Waxx - alias Russell Bertrand - Verbrechen begangen hatte.
Meine Hoffnung, Henry könnte seine Kidnapper womöglich beschreiben, erfüllte sich nicht. Während seiner Gefangenschaft hatte man ihn meistens mit Medikamenten ruhiggestellt.
Mit Hilfe seines Computers sagte er allerdings etwas, das mich völlig aus dem Konzept brachte: »Nicht bloß einer. In den zwei Monaten habe ich acht oder zehn Stimmen gehört. Vielleicht sogar mehr.«
Falls er während dieser Zeit nicht so stark unter Drogen gestanden hatte, dass seiner Wahrnehmung nicht zu trauen war, so ergab sich eine völlig neue Lage. Zuerst hatten wir gemeint,
es mit einem einsamen Irren zu tun zu haben, dann mit zweien, und nun handelte es sich womöglich um eine ganze Organisation , was völlig absurd klang.
»Noch etwas«, sagte Henry. »Mutter, zeig’s ihm.«
»Bist du sicher, dass wir das tun sollten?«, fragte seine Mutter.
Henry nickte heftig.
»Kommen Sie«, sagte Bella und ging quer durch den Raum zu zwei hohen Schubladenschränken. Aus einem zog sie ein Gemälde und hielt es so, dass ich es betrachten konnte.
Dieses Werk war nicht so beeindruckend wie jene in der Bibliothek. Ihm fehlten die Klarheit und die kraftvolle, einzigartige Verwendung extremer Lichtverhältnisse, von denen die früheren Bilder geprägt waren. Die Technik war alles andere als meisterhaft, der Aufbau nicht komplex, und die dargestellten Gegenstände hatten nicht die richtigen Proportionen. Dennoch konnte man darin denselben Geist erkennen, dieselbe kreative Sensibilität.
Als ich mich umdrehte, um Henry zu fragen, wie ihm das gelungen war, sah ich, dass er mit dem rechten Fuß einen Pinsel
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