Blitze des Bösen
Grund oder er war gar nicht zu Hause.
In diesem Fall mußte er nicht nur den netten Leuten von
Boeing, wo man so anständig gewesen war, ihm eine feste
Stellung zu geben, Rede und Antwort stehen, sondern auch ihr.
Wenn sie schon den Weg nach Capitol Hill zurücklegen müßte,
nur um herauszufinden, daß er sich irgendwo herumtrieb, wäre
es auch ihre Pflicht, ihm die Leviten zu lesen. Sie war immer
eine gute Mutter gewesen, sagte sich Edna Kraven, egal, was
die Leute hinter ihrem Rücken über sie redeten. Rory taugte
zwar nicht viel, aber er war alles, was sie noch hatte.
Sie verließ ihr Haus um dreizehn Uhr, stieg kurz nach vierzehn Uhr vor dem Krankenhaus aus dem Bus und machte sich
auf den mühseligen Marsch bis zu Rorys Wohnung. Mit jedem
Schritt wuchs ihr Ärger auf ihren jüngeren Sohn. Warum
konnte er nicht so wie Richard sein, der ihr in seinem ganzen
Leben keinen Tag Kummer bereitet hatte?
Ja, Richard war ein Märtyrer gewesen. Ein christlicher
Märtyrer!
Unzählige Male hatte Edna für ihn gebetet und immer wieder dieselbe Botschaft erhalten: Richard war ein unschuldiges
Lamm gewesen, das unrechtmäßig hingerichtet worden war.
Nur seine Mutter hatte ihm Glauben geschenkt. Aber eines
Tages, das wußte sie, würde die Wahrheit ans Licht kommen.
Schließlich geschahen diese gräßlichen Morde ja nach wie vor.
War nicht gerade erst vor einer Woche diese Frau drüben in
Boylston getötet worden? Nicht, daß sie Edna leid getan hätte,
denn letzten Endes war sie ja nur eine Hure. Aber erst
vorgestern nacht hatte man die arme Frau, die in Rorys Nähe
wohnte, umgebracht. Und beide waren auf dieselbe Weise
getötet worden wie alle, für deren Tod man Richard
verantwortlich gemacht hatte. Hätten sie Richard nicht
ermordet, wüßten sie jetzt die Wahrheit – und er könnte
heimkehren zu seiner Mutter, wo er hingehörte. Aber es war zu
spät. Edna Kraven stöhnte heftig unter der Last ihrer Sorgen,
betrat das Haus, in dem Rory lebte und stieg die Stufen bis zum
zweiten Stock hinauf.
Auf dem Treppenabsatz stoppte sie, um erst einmal kräftig
nach Luft zu schnappen und schaute sich mit Widerwillen in
dem spärlich beleuchteten Flur um. Die Farbe blätterte von den
Wänden, und der billige Teppich schlug Wellen an den
Rändern. Womit hatte sie bloß einen Sohn verdient, der an
einem solchen Ort hauste? Sie hatte ihm schon vorher gesagt,
daß dies ein unschicklicher Platz für sie sei, an dem sie ihn
ungern besuchte. Heute mußte sie endlich ein Machtwort
sprechen. Wenn er nicht ausziehen würde, durfte er nicht
erwarten, daß sie jemals wieder zu ihm kam.
Sie schleppte sich bis vor Rorys Tür, wollte schon anklopfen, bemerkte dann aber, daß die Tür nicht ganz geschlossen
war. Typisch Rory – erst fortgehen und dann nicht einmal die
Tür zumachen. Jeder hätte ihn ausrauben können! Edna stieß
die Tür auf und ging hinein.
»Rory?«
Keine Antwort. Edna wurde es plötzlich unbehaglich
zumute. Sie spürte, daß der Raum nicht leer war. Mit finsterer
Miene ging sie zur offenen Badezimmertür, doch dann hielt sie
kurz inne.
Die Wände! Die schmierigen, beigefarbenen Wände, die
anzustreichen sie Rory nie hatte überreden können, trugen rote
Streifen.
Leuchtend rot.
Blutrot.
»Rory?« fragte Edna wieder, doch diesmal leise, fast
unhörbar, als hätte sie schon begriffen, was hier passiert war.
»Rory? Deine Mama ist da und will sich um dich kümmern.«
Wie von einer unsichtbaren Kraft gelenkt, schlich Edna zur
Badezimmertür. Ihr graute vor dem, was sie dort erwartete,
aber wie unter Zwang ging sie weiter. Als sie dann erkannte,
was in der Badewanne lag, drehte sich ihr der Magen um. Sie
torkelte zum Waschbecken und übergab sich. Erst dann brachte
sie es fertig, sich in das Zimmer zu schleppen, in dem ihr
jüngerer Sohn gestorben war, und die Polizei anzurufen.
47. Kapitel
»Um Himmels willen!« rief Mark Blakemoor, als er die zerschundene Leiche von Rory Kraven anstarrte. »Was zum Teufel ist hier passiert?«
Er hatte zusammen mit Lois Ackerly noch einmal die Akten
über Shawnelle Davis und Joyce Cottrell durchgesehen und
erfolglos nach einem Bindeglied zwischen den beiden Frauen
gesucht – nach entfernten Verwandten oder auch nur
gemeinsamen Zufallsbekanntschaften –, als der Anruf
gekommen war.
Die Leiche, die jetzt vor ihm in der Badewanne eines schäbigen Appartements lag, war die von Rory Kraven – dem Bruder des Mannes, dessen Verbrechen von
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