Blitze des Bösen
arbeitet?«
»Ja, sie wohnt hier, sie ist aber jetzt an ihrem Arbeitsplatz.
Kann ich ihr etwas ausrichten?«
Sheila zögerte, rang sich dann aber doch zu einem Entschluß durch. Wenigstens sprach sie diesmal mit einem realen
Menschen, und wenn Anne Jeffers dort wohnte, würde sie die
Nachricht wahrscheinlich auch erhalten. »Ich hab’ eine
Nachricht bei ihr aufs Band gesprochen, doch sie hat mich
nicht zurückgerufen«, sagte Sheila und betonte jedes Wort so
sorgfältig, damit ihr Gesprächsteilnehmer nicht merkte, wie
betrunken sie gestern nacht gewesen war. »Sind Sie Ihr Ehemann?«
Sheila bemerkte das kurze Zögern nicht, ehe die Stimme mit
einem knappen »Ja« antwortete.
»Es geht um meinen Sohn«, fuhr Sheila fort, »um Danny
Harrar. Dieser Richard Kraven hat ihn ermordet, doch die
Polizei hat nichts unternommen. Die sagen immer nur, er sei
bloß ein betrunkener Indianer, aber das stimmt nicht. Danny
war ein guter Junge. Er hat gearbeitet, ist zur Schule gegangen
und hat überhaupt nie getrunken.« Sheila stiegen die Tränen in
die Augen, doch sie wischte sie fort. Sie war wild entschlossen,
ihre aufwallenden Gefühle nicht die Oberhand gewinnen zu
lassen. »Ich will doch nur, daß man meinen Sohn findet. Daß
man ihn findet, damit ich ihn begraben kann«.
Am anderen Ende herrschte zunächst Stille, doch dann
sprach der Mann wieder: »Und Sie wollen, daß Anne Ihnen
dabei hilft?«
Sheila stockte der Atem. Er hatte nicht aufgehängt! »Glauben Sie, sie würde das tun?« fragte sie mit vor Sorge bebender
Stimme. Es war schon so lange her, daß ihr überhaupt jemand
zugehört hatte. Darum wagte sie kaum daran zu glauben, die
Frau dieses Mannes könne ihr wirklich helfen.
»Erzählen Sie mir doch davon«, forderte sie der Mann auf.
»Sagen Sie mir einfach, was Ihrer Meinung nach mit Ihrem
Sohn passiert ist und wie meine Frau mit Ihnen Kontakt aufnehmen kann.«
Auf einmal zitterten Sheilas Hände, und sie war schweißgebadet. Womit sollte sie anfangen? »Er wollte angeln gehen«,
begann sie. »Mit diesem Mann, diesem Kraven. Das hab’ ich
auch der Polizei erzählt, aber die glaubten mir nicht, weil ich
eine In…« Sie atmete tief durch. »Die sagen, wir sind alle
Säufer, aber das stimmt nicht. Danny war kein Säufer und ich
auch nicht, jedenfalls damals nicht. Aber die haben mir
trotzdem nicht geglaubt.«
»Erzählen Sie mir, was passiert ist«, sagte der Mann. »Sagen
Sie mir alles, was Sie wissen und was Sie glauben.«
Langsam und gründlich berichtete Sheila Harrar, was ihrer
Meinung nach an jenem Tag, als Danny verschwunden war,
passiert sein konnte.
Und der Mann am anderen Ende der Leitung hörte ihr zu. Er
hörte ihr genau zu und erinnerte sich.
In den Ohren des Experimentators hämmerte sein eigener
Herzschlag so laut, daß es ihm schwerfiel zu glauben, niemand
könnte es hören. Aber wer sollte ihn schon hören?
Er war ganz allein, abgeschlossen in seiner eigenen Welt.
Einer mobilen Welt aus Metall und Glas, die ganz und gar
nur seiner Herrschaft unterstand.
Er war absolut frei zu tun, was er tun wollte; dorthin zu gehen, wohin er wollte, geschützt vor allen Wirrnissen der Welt
draußen, dieser Welt, die er so wenig unter Kontrolle hatte.
Es war gut, allein zu sein.
Aber bald wäre er nicht mehr allein, denn durch die Windschutzscheibe sah er, wonach er gesucht hatte.
Ein Junge, vielleicht siebzehn oder achtzehn, der an der Ecke
eines Häuserblocks stand und eine Angel in der Hand hatte.
Ein Junge, der auf ihn wartete.
Während er auf die Bremse des Wohnmobils trat, versuchte
der Experimentator, seinen Herzschlag zu verlangsamen. Doch
das war unmöglich; die freudige Erwartung war zu erregend.
Doch der Junge würde das nicht bemerken. Keines seiner
Versuchsobjekte hatte das bisher bemerkt.
Das Fahrzeug stoppte sanft, und die Tür ging auf. Der Junge
lächelte ihn an. Das strahlende Weiß seiner Zähne wurde durch
die bronzefarbene Haut noch betont.
Der Experimentator lächelte zurück und winkte den Jungen
in das Wohnmobil.
»Wohin fahren wir?« fragte der Junge.
»In die Berge«, antwortete der Experimentator. »Ich kenne
einen gute Stelle am Snoqualmie River.« Automatisch sah er
sich um, doch die Straßen waren leer.
Niemand hatte sein Wohnmobil gesehen.
Niemand hatte ihn gesehen.
Falls jemand nur den Jungen allein an der Ecke hatte stehen
sehen, machte das nichts.
Er fuhr vorsichtig, wechselte selten die Fahrspur und überschritt nie die
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