Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
Vom Netzwerk:
Rückzug des Feindes geradezu riechen.
    Wie Tausende dachte er an seine Frau und seinen Sohn: »Wie ergeht es Dina und Gelik? Haben sie das Geld erhalten? Wenn ja, ist alles in Ordnung. Welch ein Glück, dass sie nicht hier sind. Wie hätte ich Gelik gegenübertreten können, wenn er hungerte und ich nicht in der Lage wäre, ihm zu helfen?« 2
    Jelena Kotschina stand morgens um vier Uhr auf, um sich nach einer der Flaschen Wein anzustellen, die aus Anlass des neuen Jahres verteilt wurden:
    Die Stunden zogen still dahin wie graue Ratten, die in der Dunkelheit verschwinden. Aber ich blieb stehen und stehen und wiederholte bei mir: »Alles geht zu Ende, alles geht zu Ende …« Der Mond wurde dunkler, der Himmel grau, dann weiß, dann blau … Die Nacht war verstrichen. Um drei Uhr nachmittags erhielt ich die Flasche mit ihrem hübschen kleinen, funkelnden Verschluss.
    Sie ging mit der Weinflasche sofort zu einem Straßenmarkt, wo es ihr gelang, sie bei einem Matrosen für ein großes Stück Brot einzutauschen. Zu Hause verbrachte sie den Abend gemeinsam mit ihrem Mann in grimmigem, teilnahmslosem Schweigen:
    Dima stiehlt kein Brot mehr. Ganze Tage lang liegt er nun mit dem Gesicht zur Wand da … Sein Gesicht ist mit Ruß bedeckt – sogar seine feinen hellen Augenwimpern sind dicht und schwarz geworden. Ich kann ihn mir nicht mehr sauber, gepflegt und elegant wie früher vorstellen. Aber natürlich bin ich in keinem viel besseren Zustand. Läuse quälen uns beide. Wir schlafen zusammen, da wir nur ein Bett haben, aber sogar durch gefütterte Mäntel ist es unangenehm, die Berührung des anderen zu spüren. 3
    Leningrad trat in die Zeit des Massentodes ein. Laut Polizeiunterlagen hatten Hunger und die damit verbundenen Bedingungen – »Dystrophie« war eine Neuprägung – im Dezember 52881 Menschen (gewiss eine erhebliche Unterschätzung) von zweieinhalb Millionen der städtischen Zivilbevölkerung das Leben gekostet. 4 Im Januar und Februar stiegen die offiziellen Zahlen auf Höchstwerte von 96751 und 96015, bevor sie allmählich fielen.
    Der Anblick des Todes, Ende Dezember bereits eine Alltäglichkeit, wurde nun universell. »Heute früh«, schrieb eine führende Angstellte im Lenenergo-Kraftwerk, »ist der Vater von [Direktor] Tschistjakow gestorben. Er liegt immer noch auf seinem Sofa in Tschistjakows Büro. Neben ihm arbeitet und isst Tschistjakow weiter, und er ruht sich auf demselben Sofa aus. Kollegen und Besucher kommen und gehen – die Leiche stört niemanden.« Wie nach dem berühmten Ausbruch des Vesuv blieben die Leichen der vielen, die auf den Straßen zusammengebrochen waren, dort, wo sie waren: zusammengedrängt im Schutz von Torwegen oder eingeschneiten Straßenbahnen oder an Mauern und Zäune gelehnt. »Auf den Bürgersteigen«, schrieb Ostroumowa-Lebedewa am 18. Januar,
    sind an den Wänden der Gebäude zahlreiche mit Sand gefüllte Holzkisten aufgestellt worden. Da es kein Wasser gibt, sind diese Sandkästen unser einziges Mittel zur Bekämpfung von Feuern. Heute ging ich die Straße entlang und sah eine sehr alte Frau auf einer der Kisten sitzen. Sie war tot. Ein paar Gebäude weiter, auf einer anderen Kiste, saß schlaff ein toter Junge. Er hatte sich erschöpft niedergelassen und war gestorben.
    Vera Kostrowizkaja, Tanzlehrerin an der Mariinski-Ballettschule und Nichte des franko-polnischen Dichters Apollinaire, schilderte die allmähliche Plünderung einer Leiche, die gegenüber der Philharmonie an einem Laternenpfahl lehnte:
    Mit dem Rücken am Pfosten sitzt ein Mann im Schnee, in Lumpen gehüllt und mit einem Rucksack auf den Schultern … Wahrscheinlich war er auf dem Weg zum Finnischen Bahnhof müde geworden und hatte sich zum Ausruhen hingesetzt. Zwei Wochen lang kam ich jeden Tag auf meinem Gang zum und vom Krankenhaus an ihm vorbei. Er saß da: 1. ohne seinen Rucksack, 2. ohne seine Lumpen, 3. in seiner Unterwäsche, 4. nackt, 5. als Skelett mit herausgerissenen Eingeweiden. Im Mai brachten sie ihn weg. 5
    Schock und Entsetzen versteckten sich hinter Galgenhumor. Die umhüllten Leichen, die, manchmal zu zweit, auf Schlitten, in Kinderwagen, auf Handkarren und Sperrholzbrettern durch die Straßen gezogen wurden, erhielten die Bezeichnung »Mumien« oder »Kokons«. Die usiljonnoe dopolnitelnoje pitanije oder UDP (»verstärkte Zusatzernährung«), die man den Sterbenden hin und wieder zuteilte, wurde zu umrjosch dnjom possche (»du wirst einen Tag später sterben«). 6 Beim Abschied

Weitere Kostenlose Bücher