Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
fröstelt man und wird von einem unangenehmen Geräusch in den Ohren verfolgt. Die Atmung und die Worte hallen wider wie in einem leeren Gefäß. Die Füße schwellen an, und tiefe Risse bilden sich in der Haut der Finger … Man existiert am Rande dessen, was sich abspielt. Zum Beispiel begegnet man in der Kantine einem Freund oder einem Kollegen und hat nicht die Energie, ihn zu begrüßen. Man betrachtet ihn träge, und er erwidert den Blick. Warum Energie auf Worte verschwenden? 11
Lidia Ginsburg beschreibt eine Art vorzeitiges Altern, verbunden mit einer Entfremdung vom eigenen Körper:
… der Wille mischte sich nun auch in Dinge ein, mit denen er früher nie etwas zu schaffen hatte … Also, ich setze den rechten Fuß nach vorn, der linke bleibt hinten, hebt sich auf die Fußspitze, es beugt sich das Knie (wie schlecht es sich doch beugen läßt!), dann löst er sich vom Boden, bewegt sich durch die Luft nach vorn … Man muß schon achtgeben, wie er da nach hinten kommt, sonst könnte man noch hinfallen. Eine gräßliche Tanzstunde war das.
Noch kränkender war es, wenn man plötzlich das Gleichgewicht verlor. Es war nicht mehr Entkräftung, kein Schwanken aus Schwäche, sondern etwas ganz anderes. Ein Mensch will seinen Fuß auf den Stuhlrand stellen, um sich den Schuh zu schnüren; in diesem Augenblick verliert er das Gleichgewicht, es pocht in den Schläfen, das Herz setzt aus. Der Körper war seiner Kontrolle entglitten, und wie ein leerer Sack wollte er in eine unergründliche Tiefe stürzen.
Mit einem entfremdeten Körper geschehen einige abscheuliche Dinge: er verliert sein altes Gesicht, er sieht vertrocknet oder aufgedunsen aus; nichts erinnert dabei an eine gute alte Krankheit … Manche dieser Vorgänge nimmt der Betroffene nicht einmal wahr. »Aber er ist doch schon ganz aufgedunsen«, sagt man von ihm, dabei ahnt er selbst noch gar nichts davon … Plötzlich beginnt der Mensch zu begreifen, daß sein Zahnfleisch anschwillt. Voller Entsetzen fährt er mit der Zunge darüber, betastet es mit dem Finger. Vor allem nachts kann er lange nicht damit aufhören. Er liegt da und befühlt aufmerksam etwas Gefühlloses und Schlüpfriges, das gerade deshalb schrecklich ist, weil es nicht schmerzt: in seinem Mund ist eine Schicht toter Materie. 12
In den letzten Stadien des Hungers wirkten die Betroffenen wie Skelette, mit hohlem Bauch, eingefallenen Wangen, hervorstehenden Kiefern und leerem, erschreckendem Blick. »Er bewegt seine in Filzstiefeln steckenden Beine«, schrieb Inber über einen Mann, der von zwei Frauen auf der Straße gestützt wurde, »als wären es Holzbeine. Er schaut unverwandt vor sich hin, wie ein Besessener. Die Gesichtshaut ist straff gespannt. Die Lippen sind halb geöffnet, und man sieht die Zähne, die vom Hunger länger geworden sind. Die Nase ist spitz, als wäre sie eingeschmolzen, und mit Eiterbeulen bedeckt. Die Nasenspitze ist ein wenig seitwärts gebogen. Jetzt weiß ich genau, was es bedeutet, ›vom Hunger benagt‹.« 13
Den Januar und Februar hindurch gab das städtische Parteikomitee eine Flut von Anordnungen heraus: über die Herstellung von burschuiki , über Chlortabletten und Impfstoffe, über die »Rechenschaftspflicht« von Apothekenleitern, über die Sortierung nichtzugestellter Briefe, über die Lieferung von Kissen und Bettwäsche an Waisenhäuser, über die Bildung von Klempnerteams für die Reparatur der Kanalisation, über die Lieferung von 13000 Paar Baumwollsocken an ein Krankenhaus. Alle Anordnungen fielen in ein Vakuum.
Unter den zahlreichen Behörden, die nicht mehr funktionieren, befand sich auch der Feuerwehrdienst. Gebäude, die durch Bombardierung, hausgemachte Öfen oder durch Späne und Holzsplitter (die man zur Beleuchtung verwandte, nachdem das Petroleum für »Fledermäuse« und »Räucherlampen« ausgegangen war) Feuer gefangen hatten, brannten tagelang. Das Gesundheitswesen war ebenfalls völlig überfordert. »Im Krankenhaus des 25. Jahrestags des Oktobers«, stand in einem Bericht vom 12. Februar an Karpow, den Chef des Stadtsowjets,
ist das Bettzeug seit dem 2. Februar nicht mehr gewaschen worden … Die Stationen sind unbeheizt, weshalb einige Patienten in die Korridore gebracht wurden, wo es provisorische Öfen gibt. Infolge der sehr niedrigen Temperaturen hüllen Patienten sich nicht nur in Krankenhausdecken, sondern benutzen auch schmutzige Matratzen und ihre eigenen Mäntel … Die Toiletten funktionieren nicht, und die
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