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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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die Knie zu zwingen. 10
    Am 16. Dezember – seine vorderen Reihen waren in verlockender Sichtweite der Moskauer Flakgeschütze – gebot Hitler endlich Einhalt. Operation Taifun war vorbei, doch die östlichen Heere sollten ihre Positionen überall an der Front behaupten. Laut Halder schlossen sich »große Aufregung« und »dramatische Szenen« bei Hitler an, während die Generale für einen Rückzug zu stabileren Verteidigungslinien plädierten. 11 Drei Tage später – zwölf Tage nach Pearl Harbor und acht Tage nach der selbstmörderischen Kriegserklärung an die Vereinigten Staaten – entließ der Führer Bock als Chef der Heeresgruppe Mitte und Brauchitsch als Oberbefehlshaber des Heeres, um selbst dessen Posten zu übernehmen. Nach einem weiteren wütenden Treffen in der Wolfsschanze am 13. Januar bat Leeb ebenfalls um Entlassung und wurde von dem gefügigeren Küchler ersetzt. Im Süden rückte Reichenau an Rundstedts Stelle und starb prompt an einem Herzinfarkt. Insgesamt traten ungefähr vierzig hohe Offiziere zurück oder wurden ihres Kommandos enthoben. Fortan konnte Hitler seinem Hang zu detaillierten Einmischungen in militärische Aktionen freien Lauf lassen – mit letztlich katastrophalen Folgen. 12
    Die meisten Militärhistoriker sind sich darin einig, dass dies der Zeitpunkt war, an dem der Krieg sich umkehrte, nicht weil Deutschland den Rückzug begann, sondern weil es keine Siegeschancen mehr hatte. Da ihm nun drei Großmächte gegenüberstanden, hatte es sich schlicht zu viel zugemutet. In London hegte Churchill keinen Zweifel. Er war davon überzeugt, wie er seinem Kriegskabinett erklärte, dass sich kein Land in der Kriegführung mit den USA vergleichen könne, und die russische Front werde Deutschland das Herz brechen. Von Leningrad bis zur Krim sei die Wehrmacht in »einem kläglichen Zustand: Motorfahrzeuge eingefroren, Gefangene zerlumpt in die Gefangenschaft gehend, Heere, die sich zu stabilisieren versuchen, russische Luftüberlegenheit. Deutschland ist unfähig, Russland auszuschalten. Das Blatt hat sich gewendet, und die nun beginnende Phase wird mehr und mehr Ergebnisse zeitigen … Man sollte sich keine Sorgen über den Ausgang des Krieges machen. Der Finger Gottes ist mit uns.« 13
    Nachdem Tichwin verloren war, musste sich Fritz Hockenjos’ Radfahrzug hinter den Wolchow zurückziehen. Am 21. Dezember verließen die Männer ihr ärmliches Quartier in Rachmyscha, doch nicht bevor sie Schafe und Hühner für die Reise geschlachtet hatten. Mit Vorräten gefüllte Scheunen gingen in Flammen auf. »Das Jammern der Frauen«, schrieb Hockenjos, »begleitete uns aus dem Dorf.« Wieder schoben sie ihre schwer bepackten Räder durch den Schnee, vorbei an liegen gebliebenen Fahrzeugkolonnen und zahllosen Bauernschlitten; in Decken gewickelte Kinder lagen auf dem Gepäck, Frauen folgten mit Kuh oder Ziege im Schlepp. Am nächsten Nachmittag stießen sie auf Infanteriefeuer – vor ihnen »Hurrageschrei«, ein brennender Lastwagen, verwundete Pferde, mit hängendem Kopf in der Mitte der Straße stehend. Nach Einbruch der Dunkelheit krochen sie im Schutz der Straßengräben voran. »Nun auch viele tote Russen. Dann waren wir hindurch und liefen, was wir konnten. In Gladj saß in einem Haus der ahnungslose Stab des 2. Btls. Mir war ums Heulen.« Um drei Uhr morgens brachen sie wieder auf und feuerten blindlings in die Wälder an beiden Straßenseiten, um die Schüsse unsichtbarer Russen zu erwidern. Im Morgengrauen, als sie eine Nachschubkolonne überholten, wurde das Feuer erneut auf sie eröffnet:
    Überall knallte und pfiff es. Verwundete wurden gebracht, Röcke geöffnet, Stiefel aufgeschnitten, Blut quoll dunkel aus klaffenden Wunden. Und daneben standen Leute, rauchten Zigaretten oder knabberten Knäckebrot, und nur wenn es allzu sehr pfiff, gingen sie für einen Augenblick hinter Pferden und Fahrzeugen in Deckung. Ich wußte nicht, war dies bewundernswerter Gleichmut oder verfluchte Gleichgültigkeit.
    Hockenjos’ Männer waren die letzten Soldaten, die den Wolchow in der Dunkelheit bei Grusino überquerten. Hinter ihnen brannten Dörfer und ließen den Himmel rot glühen. Am Weihnachtsabend erreichten sie Tschudowo an der Haupteisenbahnlinie zwischen Leningrad und Moskau, wo sie sich für die Nacht in einer Glasfabrik mit leeren Fensteröffnungen niederließen. »In dicken Klumpen hocken wir um die offenen Öfen«, schrieb Hockenjos. »In einer Ecke wird der Christbaum gerichtet, in

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