Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
wünschten die Menschen einander, »nicht in den Gräben zu enden«, womit sie nicht die Schützengräben an der Front meinten, sondern die neu ausgehobenen Gruben auf den Friedhöfen. Die Soldaten, die auf den Straßen ihre Runden machten, um die auf den Bürgersteigen zurückgelassenen Leichen aufzusammeln, sprachen davon, dass sie »Blumen pflückten«, denn die Köpfe der Toten waren oft in bunten Stoff gewickelt, damit man sie unter dem Schnee leichter erkennen konnte. 7 Leichen wurden auch in den Splittergräben der Parks abgeladen, die sich in improvisierte Massengräber verwandelten, nachdem man ihre Stützen als Feuerholz gestohlen hatte und sie allmählich in sich zusammensackten. All das wurde wie immer mit hämischer Freude vom deutschen Nachrichtendienst verzeichnet. Am 12. Januar hieß es in einer Meldung, dass auf dem Prospekt Statschek (einer langen Straße, die durch die südwestlichen Industriebezirke führt) sechs Menschen zusammengebrochen und gestorben seien, wonach man ihre Leichen habe liegen lassen. »Solche Fälle sind so häufig geworden, dass niemand ihnen Aufmerksamkeit schenkt. Ohnehin ist die allgemeine Erschöpfung so ausgeprägt, dass nur wenige Menschen wirkliche Hilfe leisten können.« 8
Teils infolge des Rationierungssystems war die Sterblichkeit durch ein klares demografisches Muster gekennzeichnet. Im Januar waren 73 Prozent der Todesfälle männlichen Geschlechts, 74 Prozent waren Kinder unter fünf Jahren oder Erwachsene von mindestens vierzig Jahren. Im Mai bestand die Mehrheit – 65 Prozent – aus Personen weiblichen Geschlechts, während Kinder unter fünf oder Erwachsene von mindestens vierzig Jahren eine etwas kleinere Mehrheit – 59 Prozent – ausmachten. Kinder zwischen zehn und neunzehn Jahren stellten in den ersten zehn bis hundert Tagen 3 Prozent der Gesamtzahl, im Mai waren es 11 Prozent. 9 Mithin starben Familienmitglieder typischerweise in dieser Reihenfolge: zuerst Großväter und Kleinkinder, dann Großmütter und Väter (wenn sie nicht an der Front waren) und zuletzt Mütter und ältere Kinder.
Eine ganze Familie war dann zum Untergang verurteilt, wenn ihr letztes mobiles Mitglied zu schwach wurde, um sich für die Rationen anzustellen. Die Haushaltsvorstände, gewöhnlich die Mütter, befanden sich dann in dem herzzerreißenden Dilemma, entweder selbst mehr zu essen, um auf den Beinen zu bleiben, oder die kränksten Familienangehörigen, gewöhnlich ein Großelternteil oder ein Kind, zu bevorzugen und damit das Leben aller zu riskieren. Dass viele oder die meisten ihren Kindern Priorität einräumten, ist an der großen Zahl von Waisen abzulesen, die zurückblieben. Die glücklicheren wurden in Kinderheimen untergebracht, während Nachbarn den unglücklicheren die Lebensmittelkarten abnahmen, so dass sie sich mit Straßendiebstählen durchschlagen mussten oder allein starben. 10
Die physischen Symptome des Hungers, an denen die Mehrheit der Leningrader in unterschiedlichen Kombinationen litt, waren Abmagerung, wassersüchtige Schwellung der Beine und des Gesichts, Hautverfärbung (»Hungerbräunung« im Jargon der Zeit; man sprach davon, dass Gesichter »schwarz«, »blauschwarz«, »gelb« oder »grün« wurden), Magengeschwüre, Lockerung oder Verlust von Zähnen und Herzschwäche. Frauen hörten auf zu menstruieren, und sexuelle Begierde verschwand. Der Optikingenieur Dmitri Lasarew schilderte die Einzelheiten in seinem Tagebuch:
Seit Langem möchte ich niederschreiben, was jemand, der durch Hunger abgezehrt ist, durchmacht. Man schläft sehr wenig – sechs oder sieben Stunden. Nachts zieht man dauernd die Decken hoch, wickelt sie sich um den Körper, denn man friert unablässig. Die Kälte ergießt sich über das Rückgrat und den ganzen Körper. Die herausragenden Knochen schmerzen bald und zwingen einen, die Stellung zu wechseln. Währenddessen wird man von Hunger gequält, spürt die Leere seines Magens und schluckt krampfhaft den eigenen Speichel. Es ist schwierig, auch nur die unbedeutendste physische Bewegung zu vollziehen. Bevor man sich im Bett umdreht, braucht man lange, um seine Kräfte zu sammeln. Man wartet, zögert es hinaus. Im Geist wiederholt man die notwendige Abfolge der Aktionen ein ums andere Mal, bevor man sie tatsächlich beginnt. Der Morgen bricht an, und es ist sehr mühevoll, die Trägheit zu überwinden, aufzustehen und sich anzuziehen. Tagsüber sind die Bewegungen langsam, vorsichtig. Obwohl man warme Kleidung trägt,
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