Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
Fußböden werden nicht gescheuert.
Von den 181 Ärzten des Krankenhauses erschienen nur 27 zum Dienst, von den 298 Krankenschwestern nur 163, und über tausend Leichen mussten entfernt werden. Im Rauchfuß-Kinderkrankenhaus, in dem an manchen Tagen überhaupt nicht geheizt wurde, teilten sich zwei oder drei Patienten ein Bett; seit sechs Wochen hatte man sie nicht gewaschen und auch ihre Bettwäsche nicht gewechselt, weshalb alle verlaust waren. In der Leichenhalle und in Vorratskammern hatten sich 299 Tote angesammelt. 14 Ein Stapel von Leichen wuchs auch am Hintereingang des Erisman-Krankenhauses an der Karpowka – der Überschuss aus der Leichenhalle sowie Tote aus der Nachbarschaft, die dort von ihren Verwandten abgelegt worden waren. »Jeden Tag«, schrieb Inber,
werden mit Handschlitten acht bis zehn Leichen hergeschafft. Da liegen sie im Schnee. Die Särge werden immer rarer, woraus soll man sie auch herstellen? In Bettlaken, Tischtücher, Fetzen, Flanelldecken, mitunter auch in Portieren gehüllt, liegen die Leichen da. Eines Tages sah ich eine kleine, offenbar sehr leichte Kinderleiche, in Packpapier eingewickelt und mit Bindfäden umschnürt.
Das alles liegt unheilverkündend im Schnee. Hier und da ragt ein Arm oder Bein aus dem Schnee hervor. In diesem bunten Lappen scheint noch Leben zu glimmen. Aber die Reglosigkeit ist die des Todes. Das alles erinnert an eine Schlacht und zugleich an ein Nachtasyl. 15
Dmitri Lasarew, der im Erisman-Krankenhaus von einem Freund Abschied nahm, sprach von überquellenden Toiletteneimern – »Honigeimern« – und davon, dass die einzige Pflege von Besuchern vorgenommen wurde. 16 Am 15. Januar ging die Leichenhalle in Flammen auf; die Ursache waren die noch glimmenden gefütterten Baumwolljacken von Arbeitern, die in einem Fabrikfeuer gestorben waren. Insgesamt starben laut Angaben des städtischen Gesundheitsamtes 40 Prozent der Patienten, die im ersten Quartal 1942 in die dreiundsiebzig Krankenhäuser Leningrads eingeliefert wurden. Große Diskrepanzen zwischen den verschiedenen Institutionen – das Karl-Marx-Krankenhaus meldete eine Sterblichkeitsziffer von 84 Prozent unter den im Januar aufgenommenen Patienten, das Zweite Kinderkrankenhaus des Oktoberbezirks dagegen nur 12 Prozent – lassen vermuten, dass die Zahlen keineswegs vollständig waren. 17
Marina Jeruchmanowa beobachtete die rasche Verschlechterung der Bedingungen in dem zum Krankenhaus gewordenen Hotel Jewropa. Am 16. November hatte eine knapp außerhalb des Haupteingangs landende Bombe die Stromversorgung – und damit Heizung, Beleuchtung, Herde und Fahrstühle – ausgeschaltet. Der letzte Luxus aus Friedenszeiten – zum Beispiel gestärkte Tischdecken und weiße Kellnerjacken – verschwand rasch, doch das Krankenhaus funktionierte recht normal bis zum Neujahr, als das fließende Wasser ausfiel und die Toiletten zufroren. Danach kam es zu einem raschen Niedergang, der ins Elend und in die Unordnung führte. Patienten verrichteten ihre Notdurft auf der Haupttreppe, die zu einem »gelben Eisberg« wurde, richteten einen Schwarzmarkt im Restaurant der zweiten Etage ein und beraubten das Personal – viele Angestellte wie Marina und ihre Schwester waren sanft erzogene »Turgenew-Mädchen« –, das durch die dunklen Gänge Nahrung auf die Stationen brachte. Schtrafniki – dunkelhäutige Soldaten mit funkelnden Augen aus dem 16. Strafbataillon, zumeist frühere Häftlinge – nahmen die elegantesten Zimmer in Beschlag, hefteten sich Teppiche über die Schultern und verdrehten die Samtvorhänge zu Turbanen »wie die Mannschaft eines Piratenschiffs«. Ein Konzertflügel wurde nach und nach auseinandergenommen, denn sein Mahagonigehäuse diente als Feuerholz, und der »östliche« Speisesaal mit seinen Buntglas-Langbooten verwandelte sich in eine Leichenhalle.
Am 4. Januar brach Marina mit Magenschmerzen zusammen. Zuvor hatte sie tagelang Fünfzehnstundenschichten gearbeitet, in denen sie Eimer heißen Wassers vier Treppen hoch über eisbedeckte Stufen getragen hatte. Eine freundliche Krankenschwester brachte die Mädchen und ihre Mutter im Obergeschoss in einem der ehemals billigeren Hotelzimmer unter. Die Wände waren graublau gestrichen und mit farnartigem Raureif bedeckt, denn die Innentemperatur betrug –11 °C. Der Raum wurde nur dadurch bewohnbar, dass Marinas Mutter eine Halbliterflasche Alkohol in der früheren Apotheke des Hotels entdeckte. Mit einer Hälfte davon kauften sie suchari ,
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