Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
einer andern zimmern die Pioniere Tische und Bänke zusammen. Eine Mundharmonika übt verschämt die frommen Weisen. Ich habe den Schreibblock auf den Knien und schreibe im Schein der Flammen einen Weihnachtsbrief an Els.« In der Ferne vernahm er das Dröhnen von Geschossen, denn die Russen ließen »schwere Koffer« auf den Bahnhof niedergehen. Er war erstaunt darüber, wie rasch sie ihre Artillerie herbeigeholt hatten. Als seine Männer und er ihre Gläser um Mitternacht auf Christi Geburt erhoben, taten sie es mit erbeutetem Armagnac, den sie von der Loire mitgebracht hatten.
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Schlitten und Kokons
Auf 60 Grad nördlicher Breite liegt Leningrad in einer Linie mit den Shetlandinseln und nur zwei Grad unterhalb von Anchorage. Im Mittwinter geht die Sonne um neun Uhr auf und steht niedrig und blendend bis fünfzehn Uhr am Himmel. Heutzutage liegen die Wintertemperaturen durchschnittlich bei –10 °C, doch im Januar 1942 sanken sie unter –30 °C, so dass Eiskristalle Lungen beschädigten und Nasenlöcher verstopften. Meterlange Eiszapfen hingen an den Oberleitungen der Straßenbahn, und die Frauen, die im Bolschewik-Werk Geschosse für »Katjuscha«-Raketenwerfer herstellten, konnten Metallrohre markieren, mit einem Hammer darauf klopfen und sie dann säuberlich durchbrechen. An den kurzen, hellen Tagen war die Stadt für alle, deren Energie zu ihrer Bewunderung ausreichte, außerordentlich schön – die Luft, frei von dem üblichen Kohlerauch, verblüffend klar und die Schneedecke nicht durch Fahrzeuge verunstaltet. In den achtzehn Stunden der stillen Dunkelheit (wegen der Kälte konnten die deutschen Bomber nicht starten) wirkte die Stadt, als befände sie sich am Boden eines Brunnens oder in den Tiefen des Ozeans.
Die Leningrader feierten den Beginn des neuen Jahres so gut sie konnten. Vera Inber verbrachte den ersten Teil des Abends auf einer Lesung neuer Werke im roten Salon der Zentrale des Schriftstellerverbands in der Schpalernaja, der langen düsteren Allee, gesäumt mit Regierungsgebäuden, die vom Smolny in die Stadtmitte führt. Ein paar kleine Scheite brannten im Kamin, eine einzelne Kerze gab Licht auf dem Podiumstisch. »Es war sehr kalt. Als ich an der Reihe war, rückte ich näher an die Kerze heran und las aus dem Manuskript der ersten Strophe eines neuen Gedichts (ich habe noch keinen Titel gewählt). Es war meine erste öffentliche Lesung. An der Stelle, an der ich Deutschland verfluche, konnte ich kaum atmen – ich musste mich unterbrechen und dreimal neu beginnen.« Um Mitternacht, wieder im Erisman-Krankenhaus, gingen ihr Mann und sie hinunter ins Sprechzimmer des medizinischen Direktors:
Wir holten unsere letzte Flasche Riesling herunter und gossen den Wein in Gläser, aber dann klingelte das Telefon. Es war der diensthabende Arzt in der Notaufnahme. Er meldete, dass vierzig Leichen in den Korridoren lägen und einige sogar in der Toilette. Der Mann wusste nicht, was er tun sollte. Also begab sich der medizinische Direktor hinunter in die Notaufnahme, und wir stiegen hinauf in unser Zimmer und gingen ins Bett. 1
Wassili Tschekrisow, der keine Unterstände an der Front mehr baute, verbrachte den Silvesterabend in der Sudomech-Werft. Seit einem Monat gab es dort keinen Strom mehr. »Wir tun einen Scheißdreck, und das beeinträchtigt die Moral. Man sollte die Leute wenigstens nach Hause gehen lassen, aber die Leitung hält sie den ganzen Tag hier fest … Wie ich erfahre, werden in Werkhalle Nr. 3 täglich acht bis zehn Särge gezimmert – und das nur in unserer einen Fabrik.« Die Leningrader nähmen den Beschuss gar nicht mehr zur Kenntnis. Er habe gesehen, wie sich Passanten mitten im Kugelhagel um Bretter eines Holzzauns stritten; ein Kollege habe beobachtet, wie eine Menschenmenge ein gerade getötetes Pferd in Stücke riss. »In einer Stunde«, schrieb er kurz vor Mitternacht,
wird 1942 hier sein. Ich sitze in unserem Aufenthaltsraum, der nur durch den Ofen erhellt wird. Wenigstens in dieser Hinsicht geht es uns gut, denn wir haben eine fast unbegrenzte Menge Feuerholz. Ich sitze da und wärme den Kaffee in meiner Tasse wieder auf. Der Rundfunkempfang ist heute gut – Neujahrsansprachen … Es ist schwierig, das neue Jahr zu feiern, wenn man hungert und friert und jeden Tag Menschen sterben. Aber die Reden sind voller Optimismus. Die dunklen, mühsamen Tage lägen hinter uns. Obwohl die Lebensmittelversorgung sich nicht verbessert habe, könne man die Vernichtung und den
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