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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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nannte, und die Erinnerung an sie wurde für N. unverbindlich und vage. Im Winter, als das Chaos völlig die Oberhand gewann, schienen die Vase und sogar die Bücherregale zur selben Kategorie zu gehören wie die Prachtbauten der reichen Kaufmannsfamilie Pogankin in Pskow oder die Ruinen des Kolosseums; es schien, als würden sie nie mehr eine praktische Bedeutung erhalten … 2
    Mit der Verengung der physischen Welt ging eine Verengung der Gefühlswelt einher. Überlebende erzählen, sie seien »wie Wölfe« oder, häufiger noch, »wie Steine« gewesen – Roboter ohne Gefühle oder Interessen außer dem, ihr eigenes Leben zu verlängern. Der Anblick eines Fremden, der auf der Straße zusammenbrach – was im November und Dezember noch ein moralisches Dilemma ausgelöst hatte: sollte man stehen bleiben, helfen und damit riskieren, keine Lebensmittel für die eigene Familie heimzubringen, oder sollte man vorbeigehen? –, war im Januar und Februar kaum noch der Aufmerksamkeit wert. Am 13. Januar machte sich Alexander Boldyrew zum Wissenschaftlergebäude auf, um sich dort »Sojasuppe« ausschenken zu lassen. Dabei erfuhr er, dass ein Nachbar, »der in den beiden letzten Monaten ganz alt und wackelig geworden war«, auf der Straße kollabiert sei, wonach vorbeikommende Soldaten ihn ins Haus geschleppt hätten. »Er ist immer noch da, auf der Treppe, und scheint zu sterben. Aber ich ging nicht hinein, sondern begab mich zum Mittagessen. Der Hin- und Rückweg nimmt all meine Kraft, meine tägliche kleine Reserve, in Anspruch. Golowan war ebenfalls unterwegs zum Essen, aber seine Reserve reichte nicht aus.« 3 Die Pförtner, bemerkte ein anderer Tagebuchschreiber, forderten Personen, die sich auf den Stufen ihres Gebäudes ausruhten, zum Weitergehen auf, denn wenn ein Passant starb, war es die Pflicht des Türstehers, ihn zur Leichenhalle zu befördern. »War die Person jedoch gut gekleidet, zeigte der Pförtner sich höflicher und bot sogar einen Stuhl an, denn er wusste, dass er später die Kleidung an sich nehmen konnte.« 4 Genauso verkümmerten die Emotionen innerhalb von Familien. Der Tod geliebter Ehemänner oder Eltern weckte bloß noch die Erleichterung über eine zusätzliche Lebensmittelkarte und dazu die Sorge, wie man sich der Leiche entledigen sollte.
    Für fast jeden war es unmöglich, an etwas anderes als an Nahrung zu denken. Sie zu beschaffen, zuzubereiten, aufzubewahren, zu berechnen, wie lange sie ausreichen würde – all diese Dinge wurden zuallgemeinen Obsessionen, genau wie die Erinnerungen an vergangene Mahlzeiten. »Wenn er eine Straße entlang ging«, schrieb Ginsburg über ihren »Blockademenschen«,
    rief er sich dabei der Reihe nach alles ins Gedächtnis, was er am Morgen oder am Vortag gegessen hatte, er überlegte, was er heute noch alles essen könne, oder verlor sich in Berechnungen, die sich stets um Zuteilungen und Lebensmittelmarken drehten. Und er grübelte so vertieft und angestrengt, wie er es früher nur getan hatte, wenn er beim Schreiben über etwas äußerst Wichtiges nachdachte …
    Hatte es denn im früheren Leben nicht schon einmal etwas Ähnliches gegeben? Ach ja, natürlich – es ist genau wie bei einer mißglückten Liebesbeziehung … 5
    Andere wurden von »Brotmanie« ergriffen: Sie stellten sich vor, eine Scheibe Schwarzbrot nach der anderen in Sonnenblumenöl zu tunken oder einen endlosen Vorrat von Weißbrötchen zu vertilgen. (Der Schriftsteller Warlam Schalamow, der zur selben Zeit in den Goldminen von Kolyma hungerte, schrieb: »Wir alle hatten den gleichen Traum über Roggenbrote, die wie Meteore oder Engel vorbeiflogen.«) Neue Verhaltensregeln entstanden im Zusammenhang mit dem Essen. Manche Familien verzehrten alles, was sie für den Tag erhalten hatten, in einem Zug, während andere es auf drei »Mahlzeiten« verteilten. Speisen konnten zusammengelegt und für alle zu gleichen Teilen oder nach den jeweiligen Bedürfnissen aufgetischt werden, oder jedes Familienmitglied durfte das essen, »was ihm laut seiner Ration zustand«. Die Zubereitung wurde zu komplizierten Ritualen ausgedehnt. Die Schilinskis mischten Teeblätter, die sie mehrere Male benutzt hatten, mit Salz und aßen sie mit einem Teelöffel. Boldyrews vierjährige Tochter bekam Wutanfälle, wenn der Tisch nicht ordnungsgemäß gedeckt war und wenn »Mahlzeiten« nicht mit einer festgelegten Formel eingeleitet wurden: »Der Tee ist so kalt, dass Fliegen und Mücken darauf Schlittschuh laufen und

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