Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
Artilleriebeschuss. Früher störte er mich nicht, doch nun denke ich beklommen: »Irgendwo bricht ein Gebäude zusammen, und Menschen werden zerquetscht.« Aber was ist das schon, verglichen mit allem, was bereits geschehen ist? Wir alle sind krank. Olga Fjorodrowna [Maschkowas Schwiegermutter] geht es sehr schlecht – was normal ist, denn in einem Raum nach dem anderen liegen Tote, eine Leiche für jede Familie. Es ist fast einen Monat her, seit Anna Jakowlewna Sweinek verhungerte. Sie liegt immer noch in ihrem eiskalten, schmutzigen Zimmer – schwarz, vertrocknet, mit gebleckten Zähnen. Niemand hat es eilig, sie zu säubern und zu beerdigen; alle sind zu schwach, um sie zu beachten. Zwei Zimmer weiter liegt noch eine Leiche: ihre Tochter Asja Sweinek, die ihre Mutter um zwölf Tage überlebte, bevor sie ebenfalls dem Hunger zum Opfer fiel. Asja starb zwei Schritte von meinem Bett entfernt. Wsewolod [Maschkowas Mann] und ich schleiften sie hinaus, da es in unserem Zimmer zu warm für eine Leiche war.
Fast vor meinen Augen starb N.P. Nikolski, ein Freund von Wsewolod und [früherer] Abgeordneter des Obersten Sowjets. Man brachte ihn auf einem Schlitten herbei, damit er in einem Sanatorium wieder auf die Beine kommen konnte … In Wsewolods Büro fiel er ins Koma und starb rasch. Dort, auf dem Sofa, blieb er zwölf Tage lang, da niemand sich in der Lage fühlte, ihn zu beerdigen. Insgesamt hat die Bibliothek mindestens hundert Menschen verloren …
Die Einstellung der Bürger zum Tod, der Tod selbst und die Bestattung haben sich stark vereinfacht. Zuerst war es sehr schwierig. Fertige einen Sarg an – es ist schwer, einen zu besorgen, denn sie kosten 500–700 Rubel –, lass ein Grab schaufeln, was mit Brot bezahlt werden muss … Dann erschienen Mietsärge, und danach wurden die Toten nur in Laken und Decken gehüllt und auf Schlitten zu den Leichenhallen gebracht. So beerdigte ich W.F. Karjakin, Sinaida Jepifanowas Mann … und nicht einmal meine abgestumpften Nerven waren allem gewachsen, was ich sah …
Asja zog nach dem Tod ihrer Mutter bei uns ein … Als sie dann auch starb, konnte ich ihre Lebensmittelkarten zu meinem Kummer nicht benutzen, denn eine Freundin von ihr war zwei Tage zuvor mit ihnen verschwunden. Kartendiebstahl ist beängstigend und verbreitet … In Läden und auf den Straßen hört man häufig einen schrillen, aufwühlenden Schrei – und man weiß, dass jemandem die Karte gestohlen oder ein Stück Brot aus den Händen gerissen worden ist. So etwas wirkt unerträglich deprimierend, und das Einzige, was uns rettet, ist Gleichgültigkeit gegenüber menschlichem Leid. 1
Wie war es, all das zu durchleben? Viele Tagebucheinträge versiegen im Januar oder Februar, weil die Verfasser zu erschöpft waren, um zu schreiben, oder weil ihnen die Worte fehlten. Andere verdichten sich zu knappen Aufzeichnungen über den Tod von Verwandten und über Lebensmittel, die man erlangt und verzehrt hat. Dagegen werden andere Tagebücher, wie das der Dichterin Olga Berggolz, weitschweifiger: Sie entwickeln sich zu langen, sich wiederholenden Ergüssen der Verzweiflung, des Unglaubens, der Schuld, des Zorns und der Furcht. Fragt man einen aus der schwindenden Zahl von Überlebenden, wie er jene Belagerungsmonate im Gedächtnis hat, so enthält seine Antwort wahrscheinlich die Worte cholod , golod , snarjady , poschary (Kälte, Hunger, Granaten, Brände). Es ist eine feste Formel, ein Stenogramm, das mit den sich reimenden Endsilben auch als Litanei dienen könnte.
In erster Linie führte der Belagerungswinter zu einer Verengung der Existenz: auf das eiserne Dreieck Wohnung, Brotschlange und Wasserquelle sowie auf unmittelbare Angehörige und Nachbarn. Abgeschieden in ihren dunklen, kalten Wohnungen, abhängig von Schlitten, hausgemachten Lampen und geborgenem Brennstoff, verglichen die Leningrader sich mit Höhlenmenschen, mit Robinson Crusoe und den Polarforschern. Das Vorkriegsleben, das damals so schlecht organisiert zu sein schien, erschien Lidia Ginsburgs »Blockademann« nun wie »ein Märchen«:
Wasser, das aus der Leitung kam; Licht, das anging, wenn man auf einen Knopf drückte; Essen, das man sich einfach kaufen konnte …
Aus jenem anderen Leben stammen die Radierung über dem Bücherregal und auf ihm der Tonkrug von der Krim – ein Geschenk. Die Frau, die ihm diesen Krug geschenkt hatte, war nun auf dem »Festland«, wie man hier den von den Deutschen nicht besetzten Teil der Sowjetunion
Weitere Kostenlose Bücher