Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
war, auf dem Boden erleichterte, zu dem die Familienmitglieder mühelos Zugang hatten, da sie in der fünften Etage wohnten. (»Zum Glück«, verzeichnet Lichatschow, »brauchten wir uns nur einmal pro Woche oder sogar nur einmal alle zehn Tage dorthin aufzumachen … Als es im Frühjahr wärmer wurde, erschienen oben im Flur braune Flecke. Wir hatten immer die gleichen Stellen aufgesucht.«)
Zusammengedrängt in einer Gemeinschaftswohnung an der Petrograder Seite, unterstützten die Mitglieder von Dmitri Lasarews erweiterter Familie einander genauso bereitwillig. Obwohl zwei Angehörige des Haushalts – ein Freund der Familie und sein Schwiegervater – im Winter starben, wurde die Wohnung (wie Marina Jeruchmanowas Zimmer im Jewropa) zu einer »Arche«. Lasarew und seine Frau lenkten die Kinder – eine sechsjährige Tochter und eine neunjährige Nichte – ab, indem sie ihnen vorrevolutionäre Detektivgeschichten vorlasen und Scharaden mit ihnen spielten. Eine, an die ihre Töchter sich erinnerten, betraf das Wort blokada . Für die Silbe blok spielten sie eine Szene aus einem Gedicht von Alexander Blok nach, für ad – auf Russisch »Hölle« – einen Teufel, der eine Seele in einer Bratpfanne brutzeln ließ. Für das ganze Wort taten sie so, als zögen sie stolpernd einen Schlitten durchs Zimmer. 15
Doch die Tagebücher und Erinnerungen stammen fast definitionsgemäß von Familien, denen es gelang, durchzuhalten und zusammenzustehen. Sehr vielen gelang es nicht, und die Beschreibungen derjenigen, die den Kampf aufgaben – gekennzeichnet durch die stets verschlossene Tür; durch Dunkelheit, Gestank und Kälte; durch stille Gestalten unter aufgehäuften Decken; durch irres Gemurmelte –, sind zahlreich und nahezu identisch. Mit einer Mischung aus Abscheu und Mitleid verzeichnete Maria Maschkowa die Auflösung von benachbarten Familien in der Sadowaja-Straße 18 (die meisten Mieter waren, wie sie, Angestellte der Öffentlichen Bibliothek). Eine Nachbarin, kurz zuvor noch Oberhaupt eines »starken, wachsamen, energiegeladenen« Haushalts, hatte miterlebt, wie ihr Mann zur Armee eingezogen wurde, wie ihre Eltern vor dem Tod in Gezänk und Diebstahl verfielen und wie ihre Tochter in ein Kinderheim gebracht wurde. Danach interessierte sie sich nur noch fürs Essen: »[Ihr] überwältigender Wunsch ist es, endlos zu essen, Speisen zu schmecken und zu genießen … Die Heimatbesuche ihres Mannes erschreckten sie, denn sie hatte Angst, dass er ihre Brotportion mitnehmen würde. Ich erkenne diesen Geisteszustand wieder – er ist auch in mir, in Olga, in jedem.« 16 Eine andere Frau wendete sich gegen ihren zehnjährigen Sohn, nachdem er seine Lebensmittelkarte verloren hatte:
Was mich immer wieder erstaunen wird, ist die Metamorphose, die diese liebende Mutter durchlebt hat. Früher zogen wir sie immer damit auf, dass sie so viel Wirbel um ihren Igorjok machte … Nun aber hat sie sich in eine Wölfin verwandelt, denn der Hunger hat sie ihrer Menschlichkeit beraubt. Ihr einziges Interesse richtet sich darauf, einen Brocken Essen von Igor zu erhaschen, und ihre einzige Befürchtung ist die, dass er ihr einen Brotkrumen wegnehmen oder ihr einen Löffelvoll Suppe, hergestellt aus ihrem Getreide, stehlen könnte. Als ich mit ihr darüber sprechen wollte, wie Igor zu helfen sei, hörte sie mir nicht einmal zu. Sie wurde von der Angst gequält, dass er ihre Karte in die Hände bekommen oder ihr Brot essen würde. Kategorisch erklärte sie: »Ich habe Hunger, ich will leben. Igor und sein Hunger sind mir egal. Er hat seine Karte verloren, also soll er sich selbst um das Problem kümmern.« Sie wird nichts mit ihm teilen, denn sie muss überleben. Alles andere interessiert sie nicht. Sie ist von Zorn und Neid auf jeden erfüllt, der noch auf den Beinen ist … Igor stand nur da, sagte nichts und verschlang ein Stück Brot, das die Nachbarn ihm aus Mitleid gegeben hatten. Sie rief wütend: »Glaub seinen Klagen nicht! Sieh mal, mit was für einem Riesenstück Brot er sich gerade vollgestopft hat, während ich hungrig und schwach hier liege.« Igor ist, trotz des Grauens und der Tragik seiner Situation, ruhig und beschwert sich nie. Vielleicht ist er nicht mehr zurechnungsfähig. 17
Für die Mieter von Gemeinschaftswohnungen, die sich Küche, Badezimmer und Flur teilten, war der Zusammenbruch von Nachbarn ein sehr nahes Ereignis. Der neunjährige Igor Krugljakow, der durch die eiserne Disziplin seiner Mutter und Großmutter
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