Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
Begräbnis war vorbei. 34
Sechzehn weitere Leichenhallen wurden im April eröffnet, mehrere davon in verlassenen Kirchen, etwa in der Dreifaltigkeitskathedrale und in der Kapelle des Alexander-Newski-Klosters.
Am 15. Januar ordnete der Stadtsowjet an, zusätzliche größere Gräben auszuschachten: auf dem Bolscheochtinskoje-Friedhof, am anderen Newa-Ufer gegenüber dem Smolny, auf dem Serafimowskoje-Friedhof in Nowaja Derewnja, auf dem alten lutherischen Friedhof auf der Dekabristen-Insel sowie auf dem Piskarjowskoje- und Bogoslowskoje-Friedhof in den fernen nordöstlichen Vororten. Jeder der fünfzehn Bezirkssowjets sollte vierhundert Arbeiter für die Schaffung der neuen Begräbnisstätten bereitstellen, doch nur ein einziger war dazu in der Lage, weshalb die Aufgabe von NKWD-Soldaten und Zivilschutzeinheiten übernommen wurde. Die »Komsomolez«-Bagger, mit denen man die Arbeit begann, konnten den anderthalb Meter tief gefroren Boden nicht aufbrechen. Deshalb benutzte man Sprengstoff und schwerere AK-Bagger.
In einem zweiten Erlass vom 2. Februar wurden die Bezirkssowjets angewiesen, täglich insgesamt sechzig Lastwagen mit Anhängern zum Einsammeln der Toten aus Leichenhallen und Krankenhäusern bereitzustellen. Fünftonnenlaster sollten pro Fahrt hundert, Dreitonnenlaster sechzig und Anderthalbtonnenlaster vierzig Leichen transportieren. Die Fahrer wurden durch Zusatzrationen – 100 Gramm Brot und 50 Gramm Wodka für alle weiteren Lieferungen – angespornt. Infolgedessen konnte der Bestattungstrust melden, dass man an mehreren Februartagen jeweils »sechs- bis siebenhundert Leichen allein zum Piskarjowskoje-Friedhof gebracht hatte … Man konnte Fünftonnenlastwagen sehen, die hoch beladen mit Leichen durch die Stadt fuhren; ihre kaum bedeckte Fracht war doppelt so hoch wie die Seiten des Fahrzeugs, und fünf oder sechs Arbeiter saßen darauf.« Da die Leichen steif gefroren waren, konnten die Sammler eine maximale Anzahl verpacken, indem sie die gleiche Technik wie für Holzscheite benutzten: Die Toten am Rand der Ladefläche wurden senkrecht hingestellt, so dass sie eine Art Zaun bildeten, der die übrigen zusammenhielt. 35 Auf den Friedhöfen jedoch konnten die Bagger der Lieferungen nicht Herr werden, so dass sich enorme Rückstände bildeten. Die Verwaltung schätzte, dass es zum schlimmsten Zeitpunkt im Februar auf dem Piskarjowskoje-Friedhof 20000 bis 25000 nicht begrabene Leichen gab, die in zweihundert Meter langen und zwei Meter hohen Reihen gestapelt waren.
Durch den Umbau von Ziegelbrennöfen in Krematorien, im Verein mit der sinkenden Sterbeziffer, brachte man die Situation allmählich unter Kontrolle, doch die Massenbeerdigungen setzten sich bis Ende Mai fort. Auf dem Piskarjowskoje-Friedhof, der größten Beisetzungsstätte, wurden zwischen dem 16. Dezember und dem 1. Mai insgesamt 129 Gräben ausgehoben, gefüllt und wieder zugeschüttet. Die größten sechs – vier bis fünf Meter tief, sechs Meter breit und bis zu hundertachtzig Meter lang – enthielten laut Angaben der Verwaltung jeweils rund 20000 Tote. Auf dem Bogoslowskoje-Friedhof füllte man eine nicht mehr benutzte Sandgrube innerhalb von fünf oder sechs Februartagen mit 60000 Leichen, einen Panzergraben mit 10000 und mehrere Bombenkrater mit weiteren tausend. Achtzehn Panzergräben am Nordrand des Serafimowskoje-Friedhofs nahmen 15000 Leichen auf. Insgesamt, berichtete die Verwaltung, wurden in der Stadt 662 Massengräber ausgehoben und gefüllt; Gruben, Krater und Schützengräben nicht mitgerechnet. Wie viele Leichen sie enthielten, ist immer noch umstritten, doch die zutreffendste Schätzung liegt bei einer halben Million Zivilisten, die im ersten Leningrader Belagerungswinter starben. 36
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»Wir waren wie Steine«
Maria Maschkowa, Akquisitionschefin in der Öffentlichen Bibliothek, einem stattlichen graublauen, im frühen neunzehnten Jahrhundert entstandenen Gebäude an der Ecke Alexanderplatz, Newski-Prospekt, schrieb am 17. Februar 1942:
Tag um Tag vergeht, und mir kommt es bereits zu spät vor, ein Tagebuch zu beginnen. Nicht wiederholbare, erschreckende Dinge geschehen und werden vergessen. Die übrigen, die Belanglosigkeiten, bleiben uns im Gedächtnis. Heute traf ein Stapel Briefe ein, und ich wurde daran erinnert, dass sich außerhalb Leningrads ein ganz anderes Leben abspielt. Dort können die Menschen sich kein Hundertstel von dem vorstellen, was wir durchmachen.
Durch das Fenster höre ich
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