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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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Schlitten fahren, und man darf ihn ohne Tasse und ohne Löffel trinken, direkt aus der Untertasse.« (»Dies«, schrieb ihr Vater, »wird bei jeder Tasse ungefähr fünfmal rezitiert wie ein seltsamer, fast widerwärtiger Zungenbrecher … eine kindliche Reaktion auf das Chaos der Umgebung.« 6 ) Die Traditionen der Gastfreundschaft lösten sich unweigerlich auf. »Ich weiß, dass sie Hunger hat«, notierte Klara Rachman über die gerade verwitwete, verlauste Mutter einer Schulfreundin, die um duranda bettelte. »Aber sie sollte begreifen, dass es in solchen Zeiten peinlich ist, um etwas zu bitten.« (Rachmans eigener Vater, ihr »geliebter Papotschka«, sollte im März sterben.) 7
    In jener Zeit griffen die Leningrader zu den abwegigsten Ersatzmitteln: Sie kratzten getrockneten Leim von der Rückseite der Tapeten und kochten Schuhe und Gürtel auf (allerdings entdeckten sie, dass sich die Gerbereiverfahren seit den Tagen Amundsens und Nansens geändert hatten, weshalb diese Produkte zäh und ungenießbar blieben). Auf den Straßenmärkten verkaufte man »Badajew-Erde«, die unter den verbrannten Überresten der Badajew-Lagerhäuser ausgegraben worden und angeblich mit verkohltem Zucker durchsetzt war. Igor Krugljakow und sein Schulfreund schlichen an Wächtern vorbei, um sich zu bedienen:
    Ich fand etwas, das ein Stück Zucker zu sein schien, und steckte es mir in den Mund. Ich lutschte es auf dem gesamten Heimweg. Es löste sich nicht auf, aber es schmeckte süß. Zu Hause spuckte ich es in meine Hand, und es war nur ein gewöhnlicher Stein … Mama schimpfte uns natürlich aus, aber da sie mich nicht kränken wollte, tat sie so, als hätte ich ein wenig Zucker mitgebracht. Sie verrührte ihn mit Wasser, und es war, als tränken wir süßen Tee. 8
    Sich selbst Lebensmittel zu versagen, um sie anderen geben zu können – was Hunderttausenden von Leningradern gelang –, wurde zu einem Akt der Nächstenliebe und der höchsten Selbstbeherrschung.
    Im Januar waren Jelena Kotschina und ihr Mann zu Freunden gezogen. Als sie am 1. Februar in ihre eigene Wohnung zurückkehrte, fand sie die Tür geöffnet und die Möbel zerstückelt vor. »›Warum zerhackst du unsere Möbel?‹, fragte ich die Nachbarin. ›Wir frieren‹, lautete die lakonische Antwort. Was konnte ich darauf sagen? Sie hat zwei Kinder, und die frieren wirklich.« Vier Tage später lag eine Leiche in ihrem Bett, »so flach, dass die Decke dort, wo Kopf und Füße sein sollten, nur leicht erhöht war. Nachdem ich ein Stuhlbein abgehackt hatte, verließ ich meine Wohnung, ohne mich zu erkundigen, wer der Tote war.« Zwei Tage später waren noch zwei Leichen hinzugekommen. »Anscheinend haben die Nachbarn in meinem Zimmer eine Leichenhalle eingerichtet. Nur zu – Tote stören mich nicht.« 9
    Am häufigsten wurden sich die Leningrader des Ausmaßes der Tragödie bewusst, wenn sie ihre »Höhlen« verließen, um die Beerdigung eines Verwandten zu arrangieren. Als Dmitri Lichatschows mürrischer Vater, der so talentiert Holz gehackt hatte, im März starb, wusch er ihn mit Toilettenwasser, bedeckte seine Augen mit Rubelmünzen aus dem achtzehnten Jahrhundert, nähte ihn in ein Laken ein und band ihn an einen breiten Doppelschlitten, den er aus zwei kleineren, verbunden durch ein Sperrholz, hergestellt hatte. Als Erstes schleppten seine Frau und er die Leiche zur Wladimir-Kathedrale, wo ein Priester den Bestattungsgottesdienst verrichtete und den Toten mit Erde besprenkelte (eine zweite Handvoll fügte er im Namen einer Frau hinzu, deren Sohn an der Front verschollen war). Dann brachten sie seinen Vater zu einer neu eröffneten »Leichenhalle« auf dem Gelände eines Konzertsaals, wo Tausende von Verstorbenen im Freien aufgestapelt waren. Lichatschow wollte einen Lastwagenfahrer überreden, seinen Vater mit der ersten Ladung zur Beerdigung mitzunehmen. Sonst, fürchtete er, werde man das Leichentuch aufreißen und dem Toten die Goldzähne ziehen. Doch der Fahrer weigerte sich. 10
    Olga Gretschinas Mutter starb am 24. Januar zu Hause. Entschlossen, ihr das bestmögliche Begräbnis zuteil werden zu lassen, kauften Olga und ihr jüngerer Bruder Wowka für Brot und zweihundert Rubel einen Sarg vom Pförtner. Obwohl der Sarg wegen des Holzmangels ein wenig zu kurz war, machten sie ihn im Rahmen des Möglichen präsentabel, indem sie ihn mit einem Laken und einer Decke auskleideten und einen Spitzenbesatz aus einem Schal ihrer Mutter anfertigten. Erstaunlicherweise

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