Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
Verfahren jedoch völlig zusammen, als die Schlitten mit den »Mumien« die Hauptstraßen zu den großen vorstädtischen Friedhöfen füllten. Dort waren die Angestellten (von denen sechsundvierzig im Winter starben) den Anforderungen nicht gewachsen, was Gelegenheiten für »Friedhofswölfe« schuf, die Brechstangen mitbrachten und anboten, Gräber für Brot oder Geld auszuheben. Särge konnten vorübergehend gemietet werden, ebenso wie Gräber, in denen man Tote kurzfristig ablegte, bevor sie mit den übrigen in Gräben geworfen wurden. Eine Frau, die ihren toten Vater im März auf dem Serafimowskoje-Friedhof beisetzen wollte, konnte sich kein Einzelbegräbnis leisten, sprach jedoch mit den Arbeitern ab, dass sie ihn für fünfundzwanzig Rubel nicht in der Mitte, sondern am Rand eines Massengrabes platzieren würden, wovor sie ihn zuerst aus seinem Sarg entfernen mussten. Auf dem Weg nach draußen bemerkte sie ein Beispiel makaberen Friedhofhumors: Eine Leiche war mit einer Zigarette im Mund aufgerichtet worden und zeigte mit einem gefrorenen ausgestreckten Arm in Richtung des Massengrabes. 33
Immer häufiger drangen die Verwandten jedoch nur bis zu den neuen provisorischen Leichenhallen vor. Diese waren in jedem der fünfzehn Stadtbezirke eröffnet worden, um die Trauerprozessionen auf den Straßen zu verkürzen. Nach Angaben der Verwaltung machten sie »einen schlechten Eindruck auf die Bevölkerung«. Wie eine solche Bestattung ablief, wird anschaulich von dem Optikingenieur Dmitri Lasarew beschrieben, der seinen toten Schwiegervater Ende Januar beerdigen lassen wollte:
Der Hausverwalter notierte die Wegbeschreibung zur Bezirksleichenhalle an der Gluchaja-Selenina-Straße mit Bleistift auf einem Zettel. Er gab uns einen Schlitten und warnte uns, dass Leichen, wenn sie nicht in einem Sarg lägen, jetzt nur noch nach 20 Uhr durch die Straßen gefahren werden dürften. Sogar für diese Jahreszeit war es ungewöhnlich kalt: 35 Grad unter null. Nina, Nika und ich banden den Toten mit Handtüchern an ein Brett und schoben ihn mühsam die dunkle Treppe hinunter. Nina blieb zu Hause, um die Kinder ins Bett zu bringen; Nika und ich schleppten den Schlitten zur Gluchaja Selenina … Zuerst zogen wir gemeinsam, dann wechselten wir uns ab, damit der andere den Rücken zum Wind drehen und Gesicht und Hände für eine Weile aufwärmen konnte. Die Strecke – in Wirklichkeit recht kurz – schien endlos zu sein.
Schließlich erreichten wir die Tore der Leichenhalle, die früher als Feuerholzlager gedient hatte. Die Frau an der Tür, ebenfalls halb tot vor Kälte, wollte Feierabend machen und sagte mit leidender Stimme, wir sollten uns beeilen. Wir zerrten den Schlitten auf einem schmalen geräumten Pfad durch den Hof zu einem großen Schuppen. Nachdem wir die Tür weit geöffnet hatten, sahen wir im Mondlicht einen Berg von Leichen, halb angezogen oder in Laken eingenäht und aufgehäuft, als wären sie Feuerholz. Ungeduldig deutete die Frau an, dass der Neuankömmling oben auf den Berg geworfen werden solle … Niemand sonst war anwesend, und sie, offensichtlich nicht bereit, uns zu helfen, blieb abseits stehen. Wir banden die Leiche von dem Brett los und versuchten vergeblich, sie anzuheben – unseren erschöpften Muskeln fehlte die Kraft. Uns blieb nichts anderes übrig, als sie hinaufzuzerren. Am leichtesten war es, sie an den Beinen zu packen. Stolpernd kletterten wir hinauf, wobei wir auf schlüpfrige, zu Eisblöcken gefrorene Bäuche, Rücken und Köpfe traten. Trotz der Kälte herrschte ein erstickender Gestank. Als uns die Kraft völlig ausgegangen war, lagen Kopf und Schultern des armen Wladimir Alexandrowitsch immer noch draußen. Die Frau drückte die Tür des Schuppens gegen seinen Kopf und versuchte, sie zu schließen. Wir mussten höher klettern, doch wir schafften es nicht. In unserer Verzweiflung machten wir eine ruckartige Bewegung, und die Leiche rutschte seitwärts, so dass der Kopf nach außen schwang. Gleichzeitig schloss sich die Tür, und etwas rasselte. Es war die Frau, die am Türriegel hantierte, um sicherzustellen, dass er nicht wieder aufging. Mehrere Minuten lang standen wir in völliger Finsternis da und hatten Angst, uns zu bewegen … Die Tür öffnete sich. Vorsichtig, einander an der Hand haltend, stiegen wir ins Freie, und wir alle drei seufzten vor Erleichterung. Die Frau (war sie vielleicht die Chefin der Leichenhalle?) stopfte sich die Papiere nachlässig in die Tasche, und das
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