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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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konnte Olga Frauenhaarfarn in einem fast leeren Blumenladen am Newski-Prospekt erstehen. »Der Sarg sah gut aus«, erinnerte sie sich:
    Ich war mit meiner Arbeit zufrieden, ohne je daran zu denken, welchen Zweck sie hatte … Es kam mir einfach sehr merkwürdig vor, diese weiße Gestalt unter dem Laken anzusehen. Warum, wer ist das? Ich schaute sie an, und es war nicht Mama, sondern der Tod selbst – ein mit Haut überzogener Schädel, Hände, die wie Hühnerkrallen aussahen (diese Erinnerung verfolgte mich so sehr, dass ich fünfundzwanzig Jahre lang kein Huhn mehr ausnehmen konnte). Da sie es nicht ist, muss ich sie so schnell wie möglich loswerden, und dann wird alles in Ordnung sein. Mit einer Art fröhlicher Energie machte ich mich an die Organisation. Ich besorgte ein Grab und lud unsere Verwandten ein …
    Die Zusammenkunft wurde durch ihren Onkel Serjoscha verdorben, der sonderbar gekleidet eintraf, wie ein Kind wimmerte und dauernd wiederholte, dass er Suppe haben wolle (er starb ein paar Wochen später). Unterstützt vom Sohn des Pförtners, zerrten sie den Sarg auf einem Schlitten von der Majakowski-Straße zum Suworow-Prospekt, vorbei am Smolny und über die Bolscheochtinski-Brücke zum Bolscheochtinskoje-Friedhof. Während sie sich den Friedhofstoren näherten, kamen sie immer häufiger an »Mumien« vorbei, die, in Bettlaken oder alte Vorhänge eingewickelt, am Straßenrand zurückgelassen worden waren. Ein Sarg war behelfsmäßig aus einem Sofa angefertigt und mit einem Kranz aus purpurn gefärbten Holzspänen geschmückt worden; ein Kind lag im Gehäuse einer altmodischen Uhr. Olgas Mutter dagegen erhielt ein »richtiges Grab, auf Bestellung ausgehoben, doch nicht sehr tief«, und ein Kreuz aus Brettern, auf dem ihr Name und ihre Lebensdaten mit unauslöschlicher Schrift eingetragen worden waren. 11
    Überlebende der Belagerung verspürten den unwiderstehlichen Drang, ein Muster hinter den Todesfällen zu finden – eine Begründung dafür, wer am Leben blieb und wer starb. Laut einer Version gingen die Besten – die »edlen, zurückhaltenden, gewissenhaften«, wahren Petersburger – als Erste dahin, weil sie in einem darwinistischen Ringen den Kürzeren zogen. Nach einer anderen (verbreiteteren) Ansicht waren Zurückhaltung und Gewissenhaftigkeit dagegen äußerst nützlich: Um zu überleben, habe man gewisse Maßstäbe wahren müssen. Das heißt, man wusch sich die Haare, rasierte sich, fegte das Zimmer, deckte den Tisch für die »Mahlzeiten«, putzte sich die Zähne mit Holzkohle, aß die Katze nicht auf, leckte seinen Teller nicht ab, ließ den Toiletteneimer nicht überfließen und warf keinen Kot aus dem Fenster. »Wenn jemand aufhörte, sich Hals und Ohren zu waschen«, berichtete ein Überlebender, »wenn er nicht mehr zur Arbeit ging, seine Brotration in einem Rutsch aß und sich dann hinlegte und zudeckte, dann weilte er nicht mehr lange auf dieser Welt.« 12
    Diese Regeln galten auch für Kinder. Jelena Kotschina und ihr Mann zogen Ende Januar bei der äußerst disziplinierten Familie eines Kollegen ein, weil sie sich ein wärmeres Zimmer erhofften (nur um sofort enttäuscht zu werden). Seine Kinder, »blass wie Kartoffelsprossen«, saßen tagsüber bewegungslos nebeneinander,
    so mit Gehorsam gesättigt wie ein Schwamm mit Wasser. N.A.’s Frau Galja und ihr Kindermädchen arbeiten, als wären sie Aufziehuhren. N.A. setzt sie jeden Morgen in Betrieb und gibt ihnen ihre Aufträge für den Tag … Er sieht der Funktionsweise seines Haushaltsapparats aufmerksam zu, erhöht oder verringert die Belastung, verkleinert oder vergrößert die Ration genau im richtigen Moment. Er verwahrt das Brot in seinem Schreibtisch, wiegt es dreimal am Tag und händigt jedem die ihm zustehende Portion aus. 13
    Lichatschow und seine Frau ließen ihre vierjährigen Töchter Dichtung auswendig lernen, zum Beispiel Auszüge aus Eugen Onegin – die Ballszene und Tatjanas Traum – sowie ein Liebesgedicht von Anna Achmatowa. Die Mädchen benahmen sich laut Aussage seiner Frau »wie Heldinnen. Wir hielten die Vorschrift ein, nicht über Speisen zu sprechen, und sie gehorchten! Bei Tisch baten sie nie um Essen, waren nie ungezogen, sondern schrecklich erwachsen, langsam, ernst. [Den ganzen Tag] saßen sie dicht an der burschuika und wärmten sich die Hände.« 14 Eine andere Haushaltsvorschrift besagte, dass man sich täglich wusch, zumindest Gesicht und Hände, und dass man sich, nachdem die Toilette eingefroren

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