Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
Saal zugenagelt waren. Ein oder zwei Tage später trieb unser stellvertretender Direktor Kanailow alle hinaus, die versucht hatten, sich im Puschkinhaus niederzulassen, damit er ihre Leichen nicht entfernen musste. Mehrere Angehörige unseres Hilfspersonals – Pförtner, Verwalter, Putzfrauen – starben auf diese Weise. Sie waren von ihren Familien losgerissen und herbeigerufen worden, und als sie nicht mehr die Kraft hatten, nach Hause zurückzukehren, mussten sie das Gebäude bei dreißig Grad Frost verlassen. Kanailow behielt alle im Auge, die schwächer wurden, und keine einzige Person starb in den Räumlichkeiten. 17
Im Januar 1942 ließ sich Kanailow über den Ladogasee evakuieren. Dabei bot er Freunden Plätze in seinem Lastwagen an, wenn sie seine Koffer trugen, die er mit antiken Teppichen und anderen Wertsachen vollstopfte. Nicht einmal die Koffer selbst – schöne alte Exemplare aus gelbem Leder – gehörten ihm, sondern waren Teil eines Vermächtnisses, das ein bibliophiler unehelicher Sohn von Alexander III. hinterlassen hatte. Weitere Kostbarkeiten des Puschkinhauses wurden von Matrosen eines in der Nähe ankernden U-Boots gestohlen: Kanailows (kaum weniger korrupter) Nachfolger erlaubte ihnen, im Austausch gegen elektrisches Licht und Suppe in das Gebäude einzuziehen, wonach sie sich Turgenews Sofa und Bloks Bett aneigneten. »Im Frühjahr«, berichtete Lichatschow, »als die Newa taute, verließen die Matrosen das Institut eines schönen Tages ohne jegliche Warnung und nahmen so viel mit, wie sie konnten. Später fand ich auf dem Fußboden eine vergoldete Tafel von Tschaadajews Uhr. Die Uhr selbst war verschwunden. Auf welchem Meeresboden ruht sie heute?« 18
Die bei Weitem besten Organisationen, denen man angehören konnte, wenn man dem Hunger entgehen wollte, waren die Streitkräfte, die Lebensmittelverarbeitungs- und -verteilungsbehörden sowie die Parteizentrale im Smolny.
Das Leben an der Front war für Soldaten in den Schützengräben um Leningrad außerordentlich hart. Sie wurden einer brutalen und launenhaften Disziplin unterworfen, mussten lange Märsche in schmutziger Fußbekleidung und schlecht passenden Stiefeln zurücklegen, trieben Schützengräben und Unterstände mit Brecheisen und Spitzhacken in den gefrorenen Boden, schliefen in ihre Wintermäntel eingewickelt draußen im Schnee, führten einen unablässigen Kampf gegen Ratten und Läuse und mussten im Verlauf von Offensiven tagelang auf saubere Unterwäsche und warmes Essen verzichten. Gleichwohl enthielten ihre Rationen, sogar auf dem niedrigsten Stand, täglich 500 Gramm Brot. Zwar wurden Lebensmittel in manchen Einheiten systematisch von den höheren Rängen gestohlen, doch es war möglich, mit der vollen Ration zu überleben. Im Allgemeinen reichte die Verpflegung beim Militär aus, um nicht nur die männlichen und weiblichen Soldaten, sondern auch ihre Angehörigen zu ernähren. Ehefrauen und Freundinnen von Offizieren, die in der Stadt selbst stationiert waren, ging es merklich besser als ihren Nachbarn, weshalb ihnen der giftige Spitzname »Verteidigungsdamen« verliehen wurde. Eine davon, die Frau eines Militäringenieurs, wohnte neben Georgi Knjasew. Sie kaufte für Brot, Zucker und Reis von den anderen Hausbewohnern Tischtücher, Handtücher, Teppiche und Lampen. »Nur dadurch können die hungernden Nachbarn überleben«, notierte Knjasew ironisch. »Die Dame wiederum achtet voll auf ihren Vorteil. Demnach gibt es in Leningrad neben Hungernden auch Satte!« 19
Anfang Februar klopfte ein glattgesichtiger, mit einer eleganten Uniform bekleideter Offizier an Jelena Skrjabinas Tür, um ihre Evakuierungsdokumente abzuholen: »Er wirkte wie ein Mensch aus einer anderen Welt, den es rein zufällig auf unseren Planeten verschlagen hatte. Zum hundertsten Mal wunderte ich mich über die unterschiedliche Lage der Menschen, die gewisse Einflüsse oder Möglichkeiten haben, und der einfachen Leute, die außer einer Brotmarke nichts weiter besitzen.« 20 Soldaten traten auch als Helden der von den Belagerungshistoriografen so bezeichneten Erlösergeschichten auf. Dies sind die Erzählungen zahlreicher Überlebender über gütige Fremde, die in letzter Sekunde mit lebensrettenden Speisen aufgetaucht seien. Obwohl ein Teil der Belagerungsmythologie – ein Historiker vergleicht solche Geschichten sogar mit denen über die Engel von Mons im Ersten Weltkrieg 21 –, treffen viele dieser Darstellungen unzweifelhaft zu. Igor Krujakow
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