Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
besonderes Interesse entgegengebracht. Wir erinnern uns an Lenins Gespräch mit Gorki darüber, wie unsere Schriftsteller und Wissenschaftler ernährt werden sollten.« 10
Ihre Bemühungen waren erfolgreich, und Anfang Frühjahr – lange bevor andere Institutionen zu normalen Verhältnissen zurückkehrten – wurden in der Verbandskantine bereits täglich Gerstensuppe, Borschtsch, Kascha und Nachtisch serviert. 11 Vera Inber erhielt einen Anteil der großzügigen Lebensmittellieferung, die im März aus der Moskauer Verbandszentrale eintraf. »Ich war verblüfft, als ich sah, wie viel sie uns geschickt hatten. Ich packte mit jeder Hand eine Dose Kondensmilch und konnte sie nicht loslassen.« 12 Lidia Ginsburg bezeichnet diese Päckchen als typisch für die Funktionsweise der Sowjethierarchie, die hier »mit ungewöhnlicher Schärfe und Brutalität zutage« getreten sei. Schokolade, Butter, Zwiebäcke und Konserven seien nach Arbeitspensum und Ranghöhe, nicht nach Bedarf verteilt worden. Manche Mitglieder erhielten jeweils zwei Kilo Butter, andere weniger als ein Kilo, und wer nicht dem Aktiv angehörte, bekam gar nichts. 13 Zu denen, die Ketlinskaja verabscheuten, gehörte auch der Chef der Leningrader Filiale des Komponistenverbands Valerian Bogdanow-Beresowski, der sie vergeblich bat, seine hungernden Mitglieder aufzunehmen, da sie kein eigenes Clubhaus und auch keine Kantine besäßen. 14 Obwohl entkräftet durch Ruhr, die ihn hinderte, zu einem Treffen mit dem Vorsitzenden des Stadtsowjets Popkow zu erscheinen, gelang es ihm, sich elf zusätzliche Lebensmittelkarten der ersten Kategorie sowie drei Betten in dem Sanatorium zu verschaffen, das Ende Dezember im Hotel Astoria eingerichtet worden war. Danach stand er vor der grässlichen Aufgabe, sie zu verteilen:
Ich erhalte viele äußerst schmerzliche Bitten. Erschüttert war ich über einen Anruf von L.A. Portow, der mich mehrere Male mit flehender Stimme aufforderte: »Tu es. Tu es jetzt. Wenn du eine Woche wartest, ist es zu spät. Ich werde nicht überleben.«
Trotzdem konnte ich ihm nur einen Platz auf der Warteliste versprechen, zusammen mit den stark geschwächten Rubzow und Peissin, denn A. Rabinowitsch (seit Langem an Tuberkulose leidend), Deschewow (bereits kaum mehr fähig, sich zu bewegen) und Miklaschewski sind alle in einem noch schlimmeren Zustand. Wenn es darum geht, ein Menschenleben zu retten, darf man im Grunde keine Wahl treffen. Das Leben jeder Sowjetperson muss gerettet werden. Aber man hat trotzdem eine Wahl zu treffen, indem man Prioritäten festlegt. Man darf sich nicht durch Urteile über den kreativen oder praktischen »Wert« einer Person leiten lassen (solche Urteile können nur subjektiv sein), sondern durch objektive Merkmale dafür, wie nahe sie dem Tod bereits sind. 15
Einundzwanzig von achtzig Mitgliedern des Komponistenverbands starben an dem, was Bogdanow-Beresowski in seinem offiziellen Bericht als »Abzehrung« bezeichnete. 16 Ihr fielen auch seine eigene Mutter, seine Schwester, sein Schwager, sein Schwiegervater und seine Nichte zum Opfer.
Wenig überraschend war, dass die Solidarität am Arbeitsplatz häufig zusammenbrach. Wie Dmitri Lichatschow berichtet, verhielt sich etwa der amtierende Direktor des Puschkinhauses so brutal, dass er weibliches Personal entließ – was auf ein Todesurteil hinauslief, da die Frauen nun mit den Rationen von nicht arbeitenden Abhängigen auskommen mussten. Auch stahl er die Lebensmittelkarten der Sterbenden und warf sie schließlich hinaus, um sich später nicht der Leichen entledigen zu müssen:
Ich erinnere mich an den Tod von Jassinski. Er war ein großer, schlanker, sehr gut aussehender alter Mann, der Don Quijote ähnelte. Er schlief in der Bibliothek des Puschkinhauses auf einem Klappbett, hinter den Bücherregalen … Sein Mund schloss sich nicht mehr, und Speichel tröpfelte aus ihm hervor; sein Gesicht war schwarz und bildete einen gespenstischen Kontrast zu seinem schlohweißen, ungekämmten Haar. Seine Haut spannte sich über die Knochen … Sie wurde immer dünner und bedeckte seine Zähne nicht mehr, die hervorstanden und seinen Kopf wie den einer Schildkröte aussehen ließen. Einmal trat er mit einer Decke über den Schultern hinter den Regalen hervor und fragte: »Wie spät ist es?« Dann wollte er wissen, ob es Tag oder Nacht sei (die Stimmen von Dystrophikern wurden undeutlich, da sich die Stimmbänder zurückbildeten). Er wusste es nicht, da sämtliche Fenster im
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