Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
Vom Netzwerk:
uns hatte«, erinnerte sich Olga Berggolz’ Liebhaber Juri Makogonenko, »kaum zu beschreiben«. 6 Zudem erhielt das Rundfunkhaus mindestens zwei Sonderlieferungen aus Moskau; die erste wurde von Berggolz’ unverwüstlicher Schwester Maria organisiert, die Ende Februar einen Lastwagen mit Vorräten persönlich über das Eis des Ladogasees begleitete. »Sie schlug einen Umweg ein«, schrieb Berggolz bewundernd, »allein mit dem Fahrer, in Hosen und einem kurzen Pelzmantel, bewaffnet mit irgendeiner Pistole … Sie schlief in dem Laster, bezirzte die Kommandanten, fuhr durch Dörfer, die gerade aus der Hand der Deutschen befreit worden waren, nahm unterwegs Briefe und Päckchen für Leningrader mit … Ich bin stolz auf sie, erstaunt über sie – meine wunderbare, streitsüchtige Muska!« 7
    Eine zweite Lieferung wurde von Berggolz selbst arrangiert. Sie sammelte Lebensmittel und Medikamente für den Lufttransport nach Leningrad, während sie in Moskau Lesungen ihrer Februartage abhielt. Sie hätte noch mehr Vorräte schicken können, wären nicht die Leningrader Behörden gewesen, die nicht von der Partei ausgehenden Initiativen misstrauten, die ihre eigenen Versäumnisse nicht bloßstellen lassen wollten und möglicherweise öffentlichen Zorn fürchteten, wenn manche Institutionen merklich besser als andere versorgt würden. »Schdanow«, schrieb Berggolz wütend am 25. März, »hat gerade ein Telegramm abgeschickt, in dem er die Sendung von individuellen Paketen an Leningrader Organisationen verbietet. Dies hat angeblich ›schlimme politische Konsequenzen‹. Infolge dieses idiotischen Telegramms können wir dem Rundfunkkomitee kaum etwas zukommen lassen.« Alle Bitten waren nutzlos:
    Heute hatte ich einen Termin bei Polikarpow, dem Vorsitzenden des Allunions-Rundfunkkomitees. Das Treffen hinterließ einen sehr unangenehmen Eindruck. Ich sprach ihn ungeschickt, schüchtern an – wahrscheinlich wäre es besser gewesen, unhöflich zu sein. Nachdem ich um Erlaubnis gebeten hatte, unserem Rundfunkkomitee das Lebensmittelpaket zu schicken, gab dieser aalglatte Bürokrat, dem meine Gegenwart offensichtlich Unbehagen bereitete, nur Gemeinplätze von sich: »Die Leningrader selbst lehnen diese Pakete ab«; »Die Regierung weiß, wem geholfen werden muß«, und ähnlichen Blödsinn. »Leningrader – dies ist Schdanow!« 8
    Die Beschäftigung im Rundfunkhaus ermöglichte Berggolz jedoch, wenn auch unter Gelbsucht und Ödemen leidend, nicht nur selbst zu überleben, sondern auch Freunden zu helfen. Eine Nutznießerin war die halb dankbare, halb grollende Maria Maschkowa, der es mehrere Male schwerfiel, sich von dem gerösteten Brot und dem Kaffee loszureißen, die in Berggolz’ warmer, gut beleuchteter Wohnung angeboten wurden, um zu ihren Kindern und ihrer sterbenden Schwiegermutter in die Dunkelheit und Kälte ihrer eigenen Unterkunft zurückzukehren. Berggolz überließ ihr suchari , Orangen, Kekse, Suppenpulver und Zwiebeln aus der ersten Moskauer Rundfunkhaus-Lieferung sowie Brot, Kekse, Erbsensuppenkonzentrat, Reis, Buchweizen, Würste, Pralinen, Wodka, Tabak und mehrere Päckchen Vitamin C aus der zweiten. »Ich führe das alles so detailliert auf«, vertraute Maschkowa ihrem Tagebuch nach einem festlichen Abendessen an, »weil es eine solche Seltenheit ist – zauberhaft, unglaublich … Mit Freunden neben einem fröhlichen Samowar zu sitzen, normal geschnittenes Brot auf einem Teller liegen zu sehen, die Kinder so viel essen zu lassen, wie sie wollen … Sich keine Sorgen über den kleiner werdenden Brotlaib zu machen, über etwas anderes als Essen zu sprechen – ist das kein Glück?« 9
    Eine andere beneidenswerte Enklave war der Schriftstellerverband, den die Romanautorin Vera Ketlinskaja leitete. Im Januar ersuchte sie Schdanows Stellvertreter Alexej Kusnezow, eine Flotte von Lkws, speziell ausgerüstet mit Öfen und isoliert mit Filz und Sperrholz, über den Ladogasee zum »Festland« zu schicken. Auf der Hinfahrt sollten sie Schriftstellerfamilien evakuieren und auf der Rückfahrt Lebensmittel für 100000 Rubel von Kolchosbauern mitbringen, die ihrerseits durch »moderne Literatur« und »Literaturabende« unterhalten werden sollten. »Uns ist bewusst, dass alle ungeplanten Fahrten gestrichen worden sind«, versicherte sie in einem Schreiben, »aber wir bitten Sie, eine Ausnahme von dieser Regel zu machen. Sogar in den schwierigsten Zeiten haben die Partei und die Sowjetregierung der Literatur immer ein

Weitere Kostenlose Bücher