Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
erinnert sich daran, dass kurz vor oder nach Neujahr ein junger, rotwangiger Pilot an der Tür erschienen sei und einen Karton mit Butter und Mehl und einen zweiten mit suchari abgegeben habe. Dadurch sei die Familie gerettet worden. Auch Skrjabina und ihren Angehörigen kam ein völlig unbekannter Soldat zu Hilfe, der mit einem Eimer Sauerkraut auf der Schwelle stand. 22
Reisen an die Front wurden von Zivilisten hoch geschätzt, da sie dort oft üppig wirkende Mahlzeiten aufgetischt bekamen. Eine Schauspielerin, die Mitte Dezember vor Soldaten auftrat, verzeichnet staunend das Menü eines »Banketts« zur Feier der »hundertvierzig Helden des Vaterländischen Krieges«: 100 Gramm Alkohol pro Person, zwei Gläser Bier, 300 Gramm Brot und ein weißes Brötchen, 50 Gramm gesalzenes Schweineschmalz, zwei Fleischklößchen mit Buchweizen und Soße, ein Glas Kakao mit Milch, Sonnenblumenkerne, ein Päckchen Belomor-Zigaretten und eine Schachtel Streichhölzer. Außerdem durfte sie 400 Gramm Lutschbonbons mit nach Hause nehmen. 23 Vera Inber schloss sich einer Delegation an, welche die Wolchower Front im Februar 1942 besuchte. Als Geschenke hatten die Reisenden Rasiermesser, Gitarren und fünf Selbstladepistolen mit der Inschrift »Dem besten Vertilger deutscher Okkupanten« bei sich. Zum Frühstück wurden Inber zu ihrer großen Freude Brei, Brot und ein großes Stück Zucker serviert. »Herrlich! Nächstes Mal nehme ich unbedingt einen Löffel mit.« Ungefähr hundert Arbeiterdelegationen unternahmen im November und Dezember ähnliche Reisen. 24
Andere Zivilisten nahmen Verbindung zu den im Hafen ankernden Kriegsschiffen auf. Arbeiten an Bord eines U-Boots und eines Minenlegers retteten die Ingenieure Tschekrisow und Lasarew; zahlreiche Schriftsteller und Hochschullehrer – wie Boldyrew – verdienten sich lebenswichtige Mahlzeiten, indem sie vor Seeleuten Lesungen oder Vorträge hielten. Dagegen waren Heimatbesuche für Frontsoldaten verboten – und doppelt gefährlich, denn ein Mann, der in den frühen Morgenstunden mit einem Rucksack durch die Straßen ging, war ein verlockendes Ziel für Räuber oder Mörder.
Eine der besten Überlebenstechniken bestand darin, einen Posten in der Nahrungsmittelverarbeitung oder -verteilung zu ergattern. Leningrader mit einem derartigen Arbeitsplatz starben, wie zu erwarten war, kaum an Hunger. Alle 713 Beschäftigten der Krupskaja-Bonbonfabrik überlebten, ebenso wie jene in der Bäckerei Nr. 4 und in einer Margarinefabrik. In der Bäckerei Baltika starben nur 27 von ursprünglich 276 und dann 334 Beschäftigten; sämtliche Opfer waren Männer. 25 Kellnerinnen in Kantinen und Brotverkäuferinnen waren notorisch »dick«, genau wie das Personal von Waisenhäusern. Eine Freundin von Ostroumowa-Lebedewa, die im Frühjahr »rubenshafte« junge Frauen in einem wieder eröffneten Badehaus entdeckte, nahm automatisch an, dass sie in Bäckereien, Suppenküchen oder Kinderheimen beschäftigt waren. Da die Menstruation im Winter bei den meisten Frauen ausgesetzt hatte, ist ebenfalls zu vermuten, dass junge Mütter 1942 in Lebensmittelfabriken oder Speisesälen tätig waren (die beiden einzigen schwangeren Frauen, die Tschekrisow während der gesamten Belagerung zu Gesicht bekam, arbeiteten als Kellnerinnen in der Cafeteria seiner Werft). 26
Die Kaufkraft solcher Frauen ließ sich daran ermessen, dass die am leichtesten auf dem Schwarzmarkt absetzbaren Produkte keinen praktischen, sondern rein modischen Wert besaßen. Skrjabina tauschte bei ihrer ehemaligen Hausangestellten, der nun mit einer Pelzjacke ausstaffierten Geliebten eines Lagerleiters, Kleiderstoff und eine Chiffonbluse gegen Brot und Reis ein. 27 Boldyrew bestach die »Zariza der Küche« im Wissenschaftlergebäude mit einem Spitzentaschentuch und gelben Seidenpompons, und Lichatschows Frau verkaufte auf dem Sitny-Markt zwei Kleider für ein Kilo Brot und 1200 Gramm gepresstes Viehfutter. 28 Trotz mehrerer Razzien im Sommer 1942 blühten Diebstahl und Korruption im Lebensmittelverteilungssystem während der gesamten Belagerung. Ein Leningrader beschwerte sich in einem Privatbrief (abgefangen vom NKWD) im September desselben Jahres: »Es gibt Menschen, die nicht wissen, was Hunger ist und die sogar verwöhnt sind. Wer die Verkäuferin in jedem beliebigen Laden betrachtet, sieht eine goldene Uhr an einem Handgelenk und ein Armband am anderen. Sogar die Frauen am Kantinenausschank besitzen heutzutage Gold.« Dies war, wie die
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