Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
das Feuerholz, gestohlen bei seiner Arbeit auf einem Holzplatz, mitbrachte – »keine große Menge, aber für uns bedeutete es alles«. 2 Auf einer anderen Ebene fand Olga Gretschina, neunzehn Jahre alt und völlig allein, menschlichen Trost in kurzen, innigen Gesprächen mit Fremden auf der Straße, die im Januar und Februar wegen der Furcht, überfallen zu werden, gewöhnlich zu zweit unterwegs waren.
Es war interessant, die widersprüchlichen Impulse der Menschen zu beobachten: Einerseits fürchtete man, seinen wertvollsten Besitz, die Lebensmittelkarte, an einen Dieb zu verlieren, andererseits wollte man, wenn auch nur für den kurzen Heimweg, mit jemandem zusammen sein, der zuhörte. Nie wieder habe ich einen so merkwürdigen, unkontrollierbaren Wunsch verspürt, irgendeinem Fremden alles über mich selbst zu erzählen …
Beim Abschied dankte jeder dem anderen für die Begleitung und wünschte ihm, dass er den Sieg erleben werde. Bei solchen Trennungen bildete sich eine neue Etikette heraus, denn die Formulierung war fast immer die gleiche, gleichgültig ob sie von einer einfachen oder einer gebildeten Person ausgesprochen wurde. Die einfachen Frauen, die meine Geschichte gehört hatten, drückten mir ihr Mitgefühl aus und trösteten mich mit den Worten, dass ich jung sei und dass alles – Heim, Ausbildung, Freunde – zurückkehren werde. In jenen naiven, doch aufrichtigen guten Wünschen fand ich die Kraft, die ich zum Leben benötigte. Und das war der Grund, warum ich, wie jeder andere, als Antwort auf die Geschichte von Gefährten meine eigene erzählte. 3
Die zweite und wichtigste Form von swjasy der Leningrader entstand am Arbeitsplatz. Wer einen Posten hatte, erhielt nicht nur eine Arbeiterlebensmittelkarte, sondern mit Glück auch Zugang zu weiteren Mahlzeiten, zu Feuerholz, zu Lebensmittelpaketen von beigeordneten Organisationen in der unbesetzten Sowjetunion und zu einem Bett in einer der über hundert Erholungskliniken – oder stazionary –, die auf Geheiß des Stadtsowjets ab Dezember eröffnet wurden. (Obwohl viele stazionary kaum mehr als Abstellplätze für die Sterbenden waren, retteten andere einfach dadurch Leben, dass sie Patienten Nahrung aushändigen ließen, ohne sie zum Schlangestehen zu zwingen.) Nicht alle Arbeitsplätze waren gleich. Was die Fabriken betraf, so wurden die großen, angesehenen Werke, die zur militärischen Verteidigung beitrugen, am besten versorgt. Allerdings sanken auch hier die Überlebenschancen auf Zivilistendurchschnitt, weil die physischen Anforderungen der Arbeit höher waren, die Werke gezielt bombardiert wurden und nach Einführung der allgemeinen Wehrpflicht fast alle Verteidigungsarbeiter Männer waren, die rascher verhungerten als Frauen. Im Stalin-Metallwerk betrug die Sterblichkeitsziffer ungefähr 35 Prozent und in den Kirow-Werken, die in den angreifbaren südlichen Vororten lagen, zwischen 25 und 34 Prozent.
Während des Produktionsschubs im Herbst galt es als Verbrechen, der Arbeit unerlaubt fernzubleiben. Man hatte den Betreffenden die Lebensmittelkarte entzogen, doch in der Zeit der Massentode wurden diese Vorschriften nicht mehr forciert. Wer nicht zur Arbeit erschien, wurde automatisch krankgeschrieben und durfte seine Karte behalten. Dadurch waren im Januar 1942 immer noch 837000 Leningrader als Arbeiter registriert, obwohl man 270 Fabriken geschlossen hatte und die meisten übrigen kaum noch ihre Funktion erfüllten. 4 Zu den vielen Leningradern, die eine rein nominelle Arbeit ausübten, gehörte auch Jelena Skrjabina. »Bekannte haben mich in einer Schneiderwerkstatt untergebracht«, schrieb sie am 15. Januar 1942. »Seitdem bin ich, was die Verpflegungsration anbelangt, in die erste Kategorie eingestuft worden. Zwar ist die Werkstatt kaum in Betrieb, es gibt weder Licht noch Brennmaterial, doch Lebensmittelmarken werden trotzdem ausgegeben. Auf diese Weise erhalte ich ein bißchen mehr Brot, jetzt, da jedes Krümchen zählt.« 5
Eine der begehrtesten »Überlebensenklaven« für die Intelligenzija – wie ein Historiker die Arbeitsplätze im Belagerungswinter nannte – war das Rundfunkhaus, dessen Direktor die Lebensmittel, die er aus der legendären Kantine Nr. 12 des Smolny in sein Büro zurückschmuggelte, gerecht unter dem Personal verteilen ließ. Obwohl es sich um kleine Mengen handelte – ein paar Stücke Zucker, ein oder zwei Fleischpastetchen, eine Schüssel Kascha –, »ist die ungeheure moralische Wirkung, die es auf
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