Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
Agenten düster berichteten, nur eine von 10820 ähnlichen Beschwerden, die man in nur zehn Tagen gesammelt hatte. 29 Der Versuch, die Missstände aufzudecken, war sinnlos: Als Lasarews Frau sich darüber beklagte, dass die Kinder in ihrem pädiatrischen Krankenhaus weniger als die Hälfte der ihnen zugeteilten Milch erhielten, wurde sie aus der Stadt hinausgeschickt und musste täglich zwölf Stunden lang Gemüsebeete umgraben. 30
Diejenigen mit der größten Überlebenswahrscheinlichkeit – und zugleich am meisten verhasst – waren die Apparatschiks der Parteizentrale. »Ich habe selbst gesehen, wie man dem Smolny Brot geliefert hat«, flüsterte eine Frau ihrer Nachbarin laut einem Spitzel Ende Januar in einer Schlange zu. »Dort haben sie keinen Hunger. Wenn sie zwei Tage ohne Brot auskommen müssten, würden sie uns vielleicht ein bisschen mehr Aufmerksamkeit schenken.« – »Die fressen sich voll«, sagte eine andere. »Wir hungern und müssen zusehen, wie die mit ihren dicken Visagen herumgefahren werden. Es ist nicht fair.« 31 Einfache Parteimitglieder – überwiegend gewöhnliche Arbeiter – waren nicht viel besser gestellt als Normalbürger. 17000 Parteiangehörige – 15 Prozent der Gesamtzahl – sollen in der ersten Jahreshälfte 1942 verhungert sein. Dabei handelte es sich um weniger als die Hälfte der allgemeinen Sterblichkeitsziffer von 30 bis 40 Prozent. Allerdings lässt sich ein direkter Vergleich nicht anstellen, da sich die Parteimitgliedschaft – hauptsächlich Männer, relativ wenig alte Menschen, keine Kinder – anders zusammensetzte als die Durchschnittsbevölkerung. 32 Doch fraglos genossen die Bürokraten der Parteizentrale eine bessere Lebensmittelversorgung. Oft hört man, Schdanow habe während der Belagerung normale Arbeiterrationen gegessen, doch dies ist angesichts der Mahlzeiten, die im Smolny serviert wurden, höchst unwahrscheinlich. Besucher gaben einschlägige Hinweise auf einen Überfluss an Speisen. Für Lichatschow zum Beispiel, der an einem Treffen über einen Buchauftrag teilnahm, »roch es [im Smolny] wie in einem Speisesaal«, und ein Nachschuboffizier der Roten Armee erinnerte sich daran, wie er Räucherschinken, Stör und Kaviar, die von einer Lieferung übrig geblieben waren,aus der Stadt hinaus , zu den evakuierten Familien von Funktionären, gebracht hatte. 33
Der beste (und einzigartige) Augenzeugenbericht über das, was die Leningrader Elite tatsächlich aß, stammt von Nikolai Rybkowski, einem Funktionär der staatlichen Gewerkschaften. Rybkowski, der bei Kriegsbeginn 38 Jahre alt war, kam aus einer bäuerlichen Familie, war ein leidenschaftlicher Stalinist und gehörte der Generation an, die vom Terror profitierte, da sie rasch die Ämter der beseitigten Vorgesetzten übernehmen konnte. Bevor er Anfang Dezember 1941 einen Posten im Smolny erhielt, lebte er wie jeder andere Leningrader, machte sich Sorgen um seine Frau und seinen Sohn in der Evakuierung (»Ich habe ein paar Riegel Schokolade gespart, um sie Serjoschenka zu schicken«), wartete in der Schlange für normale Rationen und magerte wie alle Übrigen ab: »Ist dies mein Körper, oder ist er gegen den eines anderen ausgetauscht worden, ohne dass ich etwas gemerkt habe? Meine Beine und Handgelenke gleichen denen eines wachsenden Kindes, mein Bauch ist eingesunken, meine Rippen ragen von oben bis unten hervor.« Doch dann bot ihm ein Posten im Smolny, als Ausbilder in der »Kaderabteilung« des Stadtsowjets, Zugang zu einer anderen Welt. »Morgens zum Frühstück«, schrieb er an seinem vierten Arbeitstag,
gibt es Makkaroni oder Spaghetti oder Kascha mit Butter und zwei Gläser süßen Tee. Zum Mittag: erster Gang Suppe, zweiter Gang Fleisch, jeden Tag. Gestern zum Beispiel aß ich Gemüsesuppe mit saurer Sahne, gefolgt von einem Fleischklops mit Vermicelli. Heute war der erste Gang Suppe mit Vermicelli, der zweite Schweinefleisch mit gedünstetem Kohl. Abends für diejenigen, die noch arbeiten, kostenloses Brot und Butter mit Käse, ein Brötchen und zwei Gläser süßen Tee. Nicht schlecht. Sie schneiden nur für das Brot und Fleisch Coupons ab, alles andere gibt es zusätzlich. Dies bedeutet, dass man mit den überzähligen Coupons in die Geschäfte gehen und Getreide, Butter und alles sonst Verfügbare kaufen und ein bisschen mit nach Hause nehmen kann.
Viele Smolny-Angestellte litten unter Durchfall, doch das Gebäude war warm, sauber und hell; Kanalisation und fließendes Wasser
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