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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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funktionierten einwandfrei. Andere Leningrader, bemerkte Rybkowski, »gehen in ihrer Wohnung ins Badezimmer, leeren das Ergebnis dann sonst wo aus und waschen sich die Hände vor dem Essen nicht … Solchen Menschen zu begegnen – und man begegnet ihnen recht häufig – ist unangenehm.«
    Im März 1942 wurde Rybkowski in das »Ruhehaus« des Stadtsowjets – im Grunde ein Hotel – in einem Datschendorf nördlich der Stadt entsandt:
    Die Umgebung ist herrlich. Kleine zweistöckige Datschen mit überdachten Veranden, umringt von riesigen Kiefern, die bis zum Himmel ragen … Nach einem Spaziergang in der Kälte kehrst du, müde und ein wenig benommen durch die Waldgerüche, in ein warmes, gemütliches Zimmer zurück, lässt dich auf einen weichen Sessel fallen und streckst dankbar die Beine aus.
    Das Essen ist hier so wie in einem guten Sanatorium der Friedenszeit: abwechslungsreich, appetitlich, hochwertig. Jeden Tag gibt es Fleisch – Lamm, Schinken, Huhn, Gans, Puter und Wurst; an Fischen Brachse, Ostseehering und Stint, gebraten, gekocht oder in Aspik. Kaviar, geräucherten Stör, Käse, piroschki , Kakao, Kaffee, Tee, 300 Gramm Weißbrot und Schwarzbrot täglich, 30 Gramm Butter und, um alles abzurunden, 50 Gramm Wein und guten Portwein zum Mittag- und Abendessen … Wir essen, trinken, verbringen Zeit in der Natur, schlafen oder tun gar nichts, während wir dem Grammofon zuhören, Witze austauschen und Domino oder Karten spielen … Ich bin mir des Krieges kaum bewusst, der uns nur durch das ferne Dröhnen von Kanonen an seine Gegenwart erinnert, obwohl wir kaum ein paar Dutzend Kilometer von der Front entfernt sind.
    Den Bezirkssowjets, versuchte er sich zu rechtfertigen, gehe es nicht weniger gut, »mehrere Organisationen haben stazionary [Genesungskliniken], mit denen unsere den Vergleich scheuen«. 34 Seit Ende Februar versorgten die Bezirkssowjets auch das örtliche NKWD-Personal mit Nahrung, auf dessen Schultern ein großer Teil der alltäglichen Stadtverwaltung ruhte, seit die Mehrheit der Partei- und Komsomolmitglieder an die Front gezogen war. 35
    Auf der untersten Stufe der städtischen Lebensmittelhierarchie befanden sich Menschen, die keine Leningrader waren: Flüchtlinge vom Lande. Im September 1941 strömten Bauernfamilien vor den heranrückenden deutschen und finnischen Streitkräften in Richtung Stadt, und der Militärrat übertrug die Verantwortung für sie den Sowjets der Außenbezirke, die Anweisung erhielten, die Identität der Flüchtlinge zu prüfen, sie an der Besteigung von Straßenbahnen oder Nahverkehrszügen ins Zentrum zu hindern und sie in leeren Wohnungen, Schulen und Wohnheimen unterzubringen. 36 »Leningrad war durch einen Ring von Bauernkarren umzingelt«, schrieb Lichatschow, »die nicht in die Stadt gelassen wurden. Die Bauern wohnten in Lagern mit ihrem Vieh und ihren weinenden Kindern, die in den kalten Nächten zu Tode froren. Zuerst gingen Menschen zu ihnen hinaus, um Milch und Fleisch von ihnen zu erwerben (sie hatten angefangen, ihr Vieh zu schlachten). Aber Ende 1941 waren all diese Bauerngruppen erfroren, genau wie die weiblichen Flüchtlinge, die man in Schulen und andere öffentliche Gebäude gepfercht hatte.« 37
    Lichatschow übertrieb, doch nicht allzu sehr. Der Umstand, dass die Leningrader Behörden Flüchtlinge grausam vernachlässigten, wird vom NKWD bestätigt, zu dessen mannigfaltigen Funktionen es gehörte, die Arbeit anderer Regierungsorgane zu inspizieren. Die Lebensbedingungen der 64552 karelischen Bauern (über ein Drittel davon Kinder), die in den nordöstlichen Vororten der Stadt einquartiert waren, seien »extrem unbefriedigend«, hieß es in einem Bericht von Ende November. Ihre Unterkünfte waren dunkel, schmutzig, ungeheizt und hatten kein fließendes Wasser; da es an Bettwäsche fehlte, mussten die meisten Flüchtlinge auf dem Fußboden schlafen. In dem Dorf Toskowo, wo man achthundert Menschen in eine ungeheizte Schule mit zerbrochenen Fenstern gesteckt hatte, stahlen sie Feuerholz von den Einheimischen, fällten Bäume und rissen Wirtschaftsgebäude ab, und trotzdem starben fünf Kinder innerhalb von fünf Tagen an Lungenentzündung. Die Flüchtlinge von Toskowo wurden zudem noch schlechter verpflegt als andere, denn der (seither verhaftete) Nachschubchef der Evakuierungsstelle hatte ihre Rationskarten zurückgehalten, um sich mit Hilfe »von Schwindel Lebensmittel für seinen eigenen Gebrauch zu verschaffen«. Man traf keine Maßnahmen, um

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