Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
keine zehn Stunden pro Tag graben könne. »Arbeit!«, schrieb er wütend. »Nach einem Tag fallen sie um. Morgen muss sie aufbrechen. Grausamkeit, sinnlose Grausamkeit.« Vier Wochen später kehrte sie zurück und beschrieb ihre Erfahrung:
Für die Starken ist es dort prächtig – mehr Brot, mehr zum Mittagessen. Die Kasernen sind warm und haben elektrisches Licht. Viele nehmen zu und beantragen, im Winter dort zu bleiben – die Lagerordnung stört sie natürlich nicht. Aber wehe den Schwachen, denn wenn man die Norm nicht erfüllt, werden die Rationen gekürzt. Unsere unglückselige Bibliothekarin, die schon vor ihrer Abreise kaum noch stehen konnte, erhielt täglich nur noch eine einzige Schüssel Weizensuppe. Und das trotz einer Karte der ersten Kategorie – mit anderen Worten, sie bekam nicht einmal die ihr zustehenden Rationen. So ist das System. Überall und dauernd werden die Schwachen mit Füßen getreten und unterdrückt, aus Prinzip. »Dystrophisch« ist zu einem Schimpfwort geworden – am Arbeitsplatz, auf den Straßen, in den Straßenbahnen. Dystrophiker werden verachtet, verfolgt, zermalmt. Das erste Erfordernis, wenn man sich um eine Stelle bewirbt, ist es, nicht dystrophisch auszusehen. Dies ist die Moral des zweiten Belagerungsjahres. 53
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Die Leningrader Sinfonie
Für die amerikanische und besonders für die britische Regierung bedeutete die Partnerschaft mit den Sowjets stets eine Belastung. In den beiden ersten Kriegsjahren war die Sowjetunion nicht nur öffentlich für die Weltrevolution eingetreten, sondern auch mit Hitler verbündet gewesen (was sogar die am wenigsten nationalistischen Russen am liebsten vergessen würden). Außerdem herrschte in den USA und Großbritannien heftiger Ärger über den sowjetischen Einmarsch nach Finnland, in dessen Verlauf die beiden Regierungen ernsthaft erwogen, eine gemeinsame Expeditionsstreitmacht zur Unterstützung der Finnen auszusenden. Erst als die UdSSR ihrerseits von Deutschen überfallen worden war, wurde sie jäh vom Feind zum Freund.
Als Churchill die Nachricht hörte, war ihm klar, dass er der Öffentlichkeit seine Kehrtwendung nur schmackhaft machen konnte, wenn er zwischen dem russischen Volk und dessen Regierung unterschied. Dies tat er zum ersten Mal in einer denkwürdigen Rede, die unmittelbar vor Barbarossa gesendet wurde und in der er seine Unterstützung für das gewöhnliche russische Volk verkündete. Andererseits bekräftigte er seine unveränderte Ablehnung des Kommunismus. 4 Die Informationsdienste der Regierung wurden angewiesen, seinem Beispiel zu folgen, doch es war nicht leicht, ein Gleichgewicht herzustellen. Die BBC, die verpflichtet wurde, einen großzügigen Anteil russischer Literatur und Musik auszustrahlen, sich jedoch von jeglicher Ideologie fernzuhalten, stützte sich in erster Linie auf Klassiker des neunzehnten Jahrhunderts (eine Rundfunkbearbeitung von Krieg und Frieden mit Celia Johnson als Natascha und Leslie Banks als Pierre war ein großer Erfolg), auf Volkslieder und Rimski-Korsakow. Die Rundfunkanstalt brauchte sechs Monate für die Genehmigung, die »Internationale« zu senden (»wir wurden aufgefordert, es nicht zu übertreiben«), und »Redner« mussten sich mit fernen historischen Themen zufriedengeben, besonders wenn sie dem linken Flügel angehörten. (Über Bernard Pares, den geachteten Gründer der Londoner School of Slavonic and East European Studies, befand man, dass er »mit Peter dem Großen nicht viel Schaden anrichten« könne. 1 ) Der Massenhunger in Leningrad – über die gelegentliche Bemerkung hinaus, dass es in der Stadt »mit Lebensmitteln schlecht bestellt« sei – wurde nicht erwähnt. Stattdessen unterstrich man die kulturellen Verluste (Inber schrieb für ausländische Leser einen moralisierenden Artikel über Geschossschäden an einer Büste Röntgens, des Entdeckers der Röntgenstrahlen) und ihre entschlossene Verteidigung. (Ein gewisser Professor Ogorodnikow – »mit dem Mantel eines Infanteristen angetan und einem Gewehr in den Händen« – sandte dem Königlichen Astronomen brüderliche Grüße. 2 ) Ein Vorschlag, die BBC solle ihre eigenen russischsprachigen Programme direkt in die Sowjetunion ausstrahlen, blieb fruchtlos: Als der Sowjetbotschafter Iwan Maiski darauf angesprochen wurde, habe er laut Außenminister Anthony Eden »gescheut wie ein junges Fohlen«. 3
Anfang 1942 machte eine Neuigkeit die Runde, die diese Schwierigkeiten auf brillante Art zu überwinden
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