Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
einem Haus musste er die Menschen zum Ausziehen zwingen, indem er das Dach abtragen ließ. Die meisten jedoch ergaben sich ihrem Schicksal. »Wir zerstören ihre Wohnungen, in denen sie seit Jahrzehnten leben. Sie sind nicht wütend, denn sie begreifen, dass die Stadt Feuerholz braucht. Nun sitzen sie einfach auf ihren Bündeln und Koffern und warten auf Fahrzeuge.« 35
Ein Ingenieur, mit dem Vera Inber auf dem Heimweg von einem Vortrag in einer Fabrik plauderte, erzählte ihr, er habe gerade seine Familie in Nowaja Derewnja (dem alten Arbeiterviertel nördlich der Jelagin-Insel, wo die Schilinskis gewohnt hatten) besuchen wollen. Doch sei außer Geröll und zerbrochenen Möbeln nichts mehr von dem Haus vorhanden gewesen. Er habe den Schutt durchsucht und einige Familienfotos gefunden. »Nun«, sagte er traurig, »passt mein ganzes Zuhause in meine Tasche. Ich kann es mit mir herumtragen.« 36 Olga Gretschina, die ein gerade abgerissenes Haus bis zum Eintreffen eines Lastwagens bewachte, erhielt eine kleine Rübe als Geschenk von einer alten Frau, die ängstlich um Erlaubnis bat, ein Brett mitzunehmen. Nach einer Stunde hatte Gretschina »eine ganze Mahlzeit – mehrere Rüben und Karotten«, eingetauscht. 37 Durch die Abrissaktion, die sich den gesamten Herbst hindurch fortsetzte, wurde das Erscheinungsbild der dorfähnlichen nördlichen und östlichen Außenbezirke Leningrads umgewandelt. Sie habe mehr Schaden angerichtet, bemerkten die Bürger sarkastisch, als sämtliche »Geschosse und Bomben« der Deutschen.
Die Gartenbau-, Lebensmittelrequirierungs-, Antikorruptions- und Abbruchmaßnahmen wurden in jenem Sommer von einer weiteren Massenevakuierung über den Ladogasee begleitet. Sie diente dem Zweck, alle nicht arbeitenden Leningrader aus der Stadt zu holen. Sie war zwar verbindlich, doch viele, darunter Boldyrew und die Malerin Anna Ostroumowa-Lebedewa, konnten sich ihr entziehen. Boldyrew glaubte, an Ort und Stelle besser aufgehoben zu sein, und Ostroumowa-Lebedewa (der man einen Flug aus der Stadt hinaus und eine Unterkunft bei der Schwester einer Freundin angeboten hatte) wollte dort bleiben, wohin sie gehörte:
So lange in Leningrad zu leben und zu leiden, und nun, kurz vor der Befreiung, abzureisen! … Ich stellte mir vor, in Kasan zu sein, in einem warmen Zimmer, sicher vor Bomben und Hunger, und ich stellte mir vor, die Rolle zwar nicht einer Schmarotzerin, doch auch nicht einer Mieterin zu spielen: einer alten Frau, die niemand benötigt. Und ich entschied mich, nirgendwohin zu reisen. Nirgendwohin! 38
Die Altphilologin Olga Freudenberg versuchte, mit ihrer achtzigjährigen blinden Mutter aufzubrechen, doch sie gab den Plan auf, als ihr überfüllter Zug aus ungeklärten Gründen vier Tage lang auf der Fahrt nach Ossinowez haltmachte. Sie bestach einen Schaffner mit ihrem letzten Brotlaib, damit sie mit ihrer Mutter und ihrem Gepäck aussteigen konnte. Dann kehrten beide in ihre leere, unordentliche Wohnung zurück, wo sie den Rest des Krieges verbringen sollten.
Die Evakuierungskandidaten waren gezwungen, hastig so viele ihrer Habseligkeiten wie möglich zu Geld oder zu Lebensmitteln zu machen, weshalb sie Tische mit Trödelwaren auf den Bürgersteigen und an den Fenstern von Parterrewohnungen aufstellten (es ist erstaunlich, dachte Gretschina, wie viele alte und schöne Dinge die Menschen noch zu verkaufen haben). Dmitri Lichatschow, dem man nach der Vernehmung im Großen Haus die Aufenthaltserlaubnis aberkannt und eine Dreitagesfrist bis zur Abreise eingeräumt hatte, schaute zu, wie eine Reihe möglicher Käufer den Inhalt seiner Familienwohnung sichtete: »Zu Spottpreisen erwarben sie Kronleuchter, Teppiche, die bronzene Schreibgarnitur, Malachitkästchen, Ledersessel, das Sofa, die Stehlampe mit dem Onyxsockel; Bücher, Postkarten mit Ansichten der Stadt – jeden einzelnen Gegenstand, den mein Vater und meine Muttere vor der Revolution gesammelt hatten.« Der Verkauf brachte nur 10000 Rubel ein, von denen 2000 für sechs Säcke Kartoffeln ausgegeben wurden. 39
Durch die Abreisen sank die Zivilbevölkerung Leningrads auf das Niveau einer Provinzstadt. Vor dem Krieg hatte es noch dreieinhalb Millionen Einwohner, doch im April 1943 waren daraus eine Million, Ende August 776000 und am Jahresende nur noch 637000 geworden. 40 Luftangriffe und Artilleriebeschuss gingen im Lauf des Sommers zurück, so dass eine ruhige, geradezu ländliche Atmosphäre entstand. In den Parks hackten Frauen, in
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