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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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Kopftücher gehüllt, Kohlreihen mit schlaffen Blättern. Jungen angelten an den Uferdämmen, Matrosen rasten mit dem Fahrrad die Straßenmitte entlang, umgedrehte eiserne Bettgestelle dienten der Einzäunung von Bombentrichtern und Schrebergärten. In der Eremitage trugen die Angestellten mit Seide überzogene antike Möbel hinaus in die Sonne und bürsteten die flauschigen Schichten schwefelgrünen Schimmels ab. Der Säulengang der Isaakskathedrale, wo die Pawlowsker Schätze verwahrt wurden, sah aus »wie eine Seitenstraße in Neapel«, denn Gobelins und Teppiche hingen an Wäscheleinen zwischen den polierten Granitsäulen. Im Hof des Jussupow-Palastes sonnten sich von Skorbutflecken verunstaltete Krankenhauspatienten in ihrer Unterwäsche, ohne sich um Peinlichkeit und sexuelle Scham zu kümmern. Manche hielten die Ruhe für tröstlich und fühlten sich an die Ferien in den Dörfern ihrer Großeltern erinnert. Andere, zum Beispiel Vera Inber, die gerade von einer Reise in das angespannte Moskau zurückgekehrt war, fanden die Ruhe bedrückend und elend: »Die Stille und Menschenleere wirkt erschütternd … Wie kann man schreiben in einer solchen Stadt! Sogar während der Bombenangriffe war es leichter.« 41 Olga Freudenberg schrieb ihrem Cousin Boris Pasternak: »Unsere Stadt ist rein wie noch nie eine Stadt in der Geschichte. Sie ist absolut heilig. Ist pasteurisiert.« 42
    Außerdem war Leningrad zu einer Stadt der Frauen geworden. Sie stellten mittlerweile drei Viertel der Bevölkerung und die Mehrheit der Beschäftigten in sämtlichen Fertigungsbereichen außer der Rüstungsproduktion und dem Schiffbau. 43 (Die Verlegung einer Kraftstoffleitung unter dem Ladogasee, die im Juni abgeschlossen wurde, ermöglichte Kraftwerken und Fabriken wieder einen begrenzten Betrieb.) Der Sicherheitschef der Eremitage beschwerte sich, weil er vor dem Krieg 650 Wächter gehabt habe, nun jedoch bloß vierundsechzig, »eine mächtige Truppe hauptsächlich aus älteren Damen von fünfundfünfzig oder mehr Jahren sowie einigen von über siebzig. Viele sind Krüppel, die früher als Saalaufseher gedient haben … und zu jedem Zeitpunkt ist wenigstens ein Drittel von ihnen im Krankenhaus.« 44 Tschekrisow stellte widerwillig eine Gruppe von achtzehn Frauen, einstige Büroangestellte und Buchhalterinnen, in seiner Werft ein (sie würden zu nichts taugen, knurrte er, höchstens zum Aufräumen). Zwei Monate später musste er seine Worte zurücknehmen, nachdem er mehr als hundert Hausfrauen zu Dreherinnen, Metallarbeiterinnen und Schweißerinnen ausgebildet hatte. Sie arbeiteten nicht nur, wie er zugab, sondern sie »arbeiteten gut«. 45 In der Werft wurden außerdem zweihundert Jugendliche unter achtzehn Jahren beschäftigt, die entweder verwaist waren oder keine Eltern in der Stadt hatten.
    Da mehr Lebensmittel zur Verfügung standen und weniger Menschen versorgt werden mussten, ernährten sich die meisten Leningrader mittlerweile, nach sowjetischen Maßstäben, fast normal. (»Ein recht gut organisiertes System der Unterernährung«, wie Lidia Ginsburg es spöttisch ausdrückte.) Neben Brot, Fleisch, Fetten und Zucker konnte man nun auch Marken für winzige Mengen Salz, Wein, Trockenzwiebeln, Trockenpilze, Preiselbeeren, Salzfisch, Kaffee und Streichhölzer eintauschen. In den Betriebskantinen leckten die Menschen ihre Teller nicht mehr ab, obwohl sie immer noch mit den Fingern um den Rand ihrer Schüsseln fuhren und den Kellnerinnen mit hungrigen Augen folgten. Die Todesrate, wiewohl immer noch einige Male höher als vor dem Krieg, sank stetig, und Herzversagen (eine Nachwirkung schwerer Unterernährung) löste »Dystrophie« als häufigste Todesursache ab. 46
    Die geistige Anpassung dauerte länger. Es war immer wieder eine Überraschung, vor Lebensmittelgeschäften keine Schlangen zu entdecken (»Wie jemand, der sich anspannt, um einen schweren Koffer hochzuheben«, schrieb Ginsburg, »und ihn leer vorfindet«). Die Worte »Ich habe Hunger«, noch kurz vorher erfüllt von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, kehrten nur langsam zu ihrer alten Funktion zurück: dem alltäglichen Wunsch nach Essen Ausdruck zu geben. Die meisten Leningrader waren noch äußerst schwach – ihre Erholung, sagte Boldyrew über seine eigene Familie, schien so zart zu sein wie ein Spinnengewebe, das in jeder Sekunde von einem vorbeifahrenden Trecker zerrissen werden konnte. Als Anna Ostroumowa-Lebedewas fünfzehnjähriger Neffe sie Ende Mai besuchte,

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