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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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lassen. Als nur sechzehn darauf eingingen, humpelte Eliasberg aus dem stazionar im ehemaligen Hotel Astoria von Wohnung zu Wohnung und drängte die Bettlägerigen zum Aufstehen. Die ersten Proben dauerten, wie sich eine Oboistin erinnert, nur vierzig Minuten, und es berührte sie peinlich, dass die Gesichter einiger ihrer Freunde schmutzig vor Ruß waren und dass ihnen Läuse über den Kragen krochen. Mahlzeiten wurden bereitgestellt, doch die meisten nahmen die Zusatzverpflegung mit nach Hause zu ihren Familien. Ein erstes Konzert – man spielte Walzer und Auszüge aus Der Nussknacker und Schwanensee – fand am 5. April in dem riesigen Alexandrinski-Theater statt. Die Oboistin beobachtete, wie Eliasberg aufs Podest kletterte:
    Karl Iljitsch kam mit gestärktem Hemd und im Frack heraus. Aber als er die Arme hob, zitterten ihm die Hände. Er erschien mir wie ein Vogel, der gerade angeschossen worden war und jederzeit zu Boden stürzen konnte … Nach einer Weile hörten seine Hände auf zu zittern, und er fing an zu dirigieren.
    Nach dem ersten Stück applaudierte das Publikum, doch man hörte keinen Laut, da alle Fausthandschuhe trugen. Wenn man die Menge betrachtete, ließ sich nicht feststellen, wer ein Mann und wer eine Frau war. Die Frauen hatten ihren ganzen Körper eingehüllt, und die Männer trugen Umhänge und Schals oder sogar Frauenpelzmäntel. Danach fühlten wir alle uns so inspiriert, weil wir wussten, dass wir unsere Aufgabe erfüllt hatten und dass unsere Arbeit weitergehen würde. 12
    Die Proben für Schostakowitschs Werk begannen Mitte Juli, nur ein paar Wochen vor der Premiere. Gedacht für acht Hörner, sechs Posaunen, fünf Pauken, zwei Harfen und mindestens zweiundsechzig Streichinstrumente, überstieg die Sinfonie die Mittel des Rundfunkkomitees bei Weitem. Man forderte zusätzliche Bläser von Militärkapellen an und gab ihnen Lebensmittelkarten für Handarbeiter. Mikrofilme der Partitur trafen mit dem Flugzeug aus Schweden ein, und jeder Musiker kopierte seinen eigenen Teil per Hand. Die männlichen Musiker wurden mit Jacketts und die weiblichen mit dunklen Kleidern ausgestattet (allerdings schienen sie, wie die Oboistin berichtet, an Gestellen zu hängen). Am Morgen des Konzerts – am ersten Jahrestag des Datums, an dem Hitler angeblich ein Siegesbankett im Leningrader Hotel Astoria hatte abhalten wollen – veranstaltete General Goworow eine spezielle Abwehraktion, um Störungen durch Luftangriffe oder Sperrfeuer zu verhindern. In dem mit Würdenträgern gefüllten Auditorium geriet die Aufführung zwar einigermaßen holprig, doch die Atmosphäre war überwältigend. »Manche weinten«, erinnerte sich eine Frau aus dem Publikum,
    denn nur so konnten sie ihre Erregung zum Ausdruck bringen, andere waren zu Tränen gerührt, weil sie das durchlebt hatten, was die Musik nun mit solcher Macht darstellte, oder weil sie um diejenigen trauerten, die sie verloren hatten, oder weil sie allein die Tatsache, in der Philharmonie zu sein, nicht verkraften konnten.
    Während des Finales standen alle auf. »Es war unmöglich, im Sitzen zuzuhören. Unmöglich.« 13 Die Deutschen, die hörten, wie die Musik aus Lautsprechern über das Niemandsland hinwegdröhnte, sollen in jenem Moment begriffen haben, dass der Krieg im Osten nie siegreich für sie enden würde. Leningrad war unbesiegbar, genau wie Mutter Russland.
    Es ist eine wunderbare Geschichte, die im Rückblick jedoch überzeugender klingt als damals an Ort und Stelle. Wenige Tagebuchschreiber erwähnen das Konzert, und wenn, dann höchstens nebenher. Die chamäleonhafte Siebte – mal bedrohlich, dann nervös, erschreckend oder überweltlich – eignete sich vielleicht besser für den Sommer 1941, in dem Schostakowitsch sie komponierte, als für das betäubte und entleerte 1942. Vera Inber, die der Leningrader Premiere beiwohnte, verzeichnete bald nach ihrer Heimkehr: »… es dünkte mich, daß dies alles Leningrad gilt: das rasselnde Nahen der deutschen Panzer. Aber die strahlende Vollendung steht noch bevor.« 14 Später wurde die Sinfonie zu einer Schachfigur des Kalten Krieges: Man spielte sie bis zum Überdruss in der Sowjetunion und tat sie im Westen als bombastisches Beispiel des Stalinismus ab. Schostakowitsch konnte seinen Namen erst posthum, durch von Freunden geschriebene Memoiren, reinwaschen. Er erklärte, bei der Komposition des berühmten »faschistischen« Flöten- und Trommelmarsches habe er nicht nur an die Nationalsozialisten

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