Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
Vom Netzwerk:
stellte sie bestürzt fest, dass er »leichenblass war, mit den Füßen schlurfte, unglaublich dünn wirkte, einen Spazierstock benutzte, dass ihm die Haare ausfielen und weißer Flaum seinen Kopf bedeckte«. (Typischerweise ließ sie ihn Bilder malen, und er vollendete »eine gute Studie von Bäumen, dem Himmel und von Teilen des Anatomischen Instituts«. 47 ) Die wirklich Gesunden fielen immer noch auf, besonders in den wiedereröffneten Badehäusern. Berggolz erlebte, wie eine junge Frau mit glatter Haut und vollen Brüsten von fleckigen, knochigen Mitbesucherinnen angegriffen wurde. Die anderen Frauen versetzten ihr Schläge auf den Hintern und zischten, sie sei wohl die Geliebte eines Kantinenleiters oder eine diebische Kinderheimangestellte. Schließlich ließ das Mädchen seine Wasserschüssel fallen und suchte das Weite. 48
    Mitten in der allgemeinen Genesung wurde eine Minderheit immer noch vom Hungertod heimgesucht, entweder weil ihre Körper sich nicht mehr erholen konnten oder weil sie vom Rationierungssystem ausgeschlossen waren. Obwohl sich die Rationen ab Frühjahr allmählich erhöhten, wurde es schwieriger, eine Karte zu erhalten. Durch eine weitere allgemeine Neuregistrierung im April verringerte sich die Zahl der zirkulierenden Lebensmittelkarten, die Vorschriften, die alle ohne Aufenthaltsgenehmigung ausschlossen, wurden strenger durchgesetzt, und man entzog Arbeitslosen die Karten, um sie in die Evakuierung zu treiben. 49 »Es ist nicht so mittelalterlich wie im Winter«, schrieb Berggolz im Juli,
    aber fast jeden Tag sieht man jemanden, der sich an eine Mauer stützt, entweder weil er erschöpft ist oder bereits stirbt. Gestern lag eine Frau am Newski, auf den Stufen der Gosbank, in einer Pfütze ihres eigenen Urins. Zwei Polizisten zogen sie an den Achseln hoch, und ihre Beine, feucht und übel riechend, schleiften auf dem Asphalt hinter ihr her.
    Und die Kinder, die Kinder in den Bäckereien! Oh, dieses Paar – eine Mutter und ihre dreijährige Tochter mit dem braunen, reglosen Gesicht eines Äffchens. Riesige, transparente blaue Augen, gefroren, anklagend und verachtungsvoll geradeaus starrend. Ihr straffes Gesichtchen war ein wenig nach oben und seitwärts gewandt, ihre schmutzige, unmenschliche braune Pfote reglos zu einer flehenden Geste ausgestreckt … Welch eine Anklage für uns alle – für unsere Kultur, unser Leben! Welch ein Urteil – nichts könnte unbarmherziger sein. 50
    Lasarew wurde von dem Gedanken an eine hungernde Jugendliche verfolgt, die ihn vor einem Lebensmittelladen um ein Stück Brot bat, das sie mit einem Heringskopf essen wollte; sie sagte, sie lebe »ohne Karten«. Er schenkte ihr die Gewichtszugabe seiner Familienration und hielt am folgenden Tag nach ihr Ausschau, sah sie jedoch nie wieder. Die Herausgeberin einer Fabrikzeitung traf ein hungerndes Kind auf der Straße:
    Am Morgen, auf dem Weg zur Arbeit, sah ich einen kleinen Jungen, der ganz allein war. Hin und wieder schluchzte er, und mir fiel seine seltsame, unsichere Gangart auf. Ich trat auf ihn zu, und er murmelte zusammenhanglos, dass seine Mutter fort sei und er bis zum Abend nichts zu essen haben werde. Mir war sofort klar, dass er den Verstand verloren hatte. Er war nicht mehr bei Sinnen. Mehrere Male sprach er von seinem Vater und bat mich, ihm den Weg zur Front zu zeigen. Er sei auf der Suche nach seinem Vater, wisse jedoch nicht, wie er ihn erreichen solle. 51
    Wie die Todgeweihten im Gulag dienten die immer noch Hungernden als schreckliche Erinnerung an die Sterblichkeit und waren Gegenstand nicht nur des Mitgefühls, sondern auch des verächtlichen Gespötts. Lasarews Tochter und Nichte lernten folgendes populäres Gedicht, das einem Kinderlied der Vorkriegszeit nachempfunden war:
    Ein Dystrophiker schritt dahin
    Mit einer trüben Miene.
    In einem Korb trug er den Arsch einer Leiche.
    Ich esse Menschenfleisch zum Mittag,
    Dieses Stück wird reichen!
    Ach, hungrige Sorge!
    Und zum Abendessen brauche ich
    Natürlich ein kleines Baby.
    Ich werde das der Nachbarn nehmen,
    Es aus seiner Wiege stehlen. 52
    Um die körperlich Unfähigen loszuwerden, füllten die Vorgesetzten mit ihnen die »Freiwilligenquoten« für die Holzfällerlager und Torffelder, die außerhalb der Stadt lagen. Boldyrew, nun in der Öffentlichen Bibliothek registriert, wetterte gegen die Entsendung einer Kollegin zum Torfstechen, denn sie sei »Dystrophikerin zweiten Grades« und ein »klägliches, unbeholfenes Geschöpf«, das

Weitere Kostenlose Bücher