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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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Berggolz, die das Moskauer Konzert besuchte, wünschte sich leidenschaftlich, dass ihr verstorbener Mann hätte dabei sein können: »Oh, welch ein Kummer, dass ich Kolja nichts davon erzählen kann. Wie schrecklich und ungerecht, dass er sie nicht hört … Im Innern weinte ich ständig, während ich dem ersten Teil lauschte, und ich war so erschöpft durch die unerträgliche Spannung, dass der mittlere Abschnitt irgendwie verschwand. Ob man sie in Leningrad gehört hat?« 7 Für Alexander Werth, der ebenfalls in Moskau anwesend war, spiegelte die Sinfonie das »unendliche Mitleid mit dem russischen Volk« wider, und der finstere Flöten- und Trommelmarsch, der elfmal mit stets wachsender Lautstärke wiederholt wird, gab für ihn dem Gefühl Ausdruck, dass »das nackte Böse mit all seiner erstaunlichen, arroganten, unmenschlich beängstigenden Kraft« das Land überwältigte. 8
    Die Londoner Premiere der Sinfonie – am ersten Jahrestag von Barbarossa – wurde überall im Empire gesendet. Im ersten Satz, verkündete der Ansager mit einer, wie man ihn instruiert hatte, »aufrichtigen« und »enthusiastischen« Stimme, würden zwei Themen eingeführt. Das erste sei »offen und kräftig wie die einfachen, gebräunten Gesichter der Millionen sowjetischer Männer und Frauen, die sich am Sonntag, dem 22. Juni letzten Jahres, inmitten eines friedlichen, glücklichen Lebens versammelten«. Das zweite symbolisiere den deutschen Überfall – »das Thema der Faschisten – brutal, gefühllos, unversöhnlich« (Hinweise auf ihren »tückischen« und »hämischen« Charakter wurden aus dem Manuskript gestrichen). »Wenn Sie Ohren haben zu hören und ein Herz zu fühlen«, schloss der Ansager klangvoll, »werden Sie mir gewiss zustimmen, dass diese Musik eine Geschichte des edlen Heldentums, des unauslöschbaren Glaubens an den Sieg erzählt.« 9 Es folgte eine BBC-Proms-Aufführung unter dem Stab von Sir Henry Wood, zu der sich sechstausend Menschen in die Albert Hall drängten.
    In New York löste die Sinfonie ein Gerangel zwischen den großen Dirigenten Leopold Stokowski und Arturo Toscanini aus, die beide energisch auf die Sowjetbotschaft einwirkten, damit ihnen die Ehre der Erstaufführung zuteil wurde. Toscanini und sein NBC-Orchester setzten sich durch, und obwohl Schostakowitsch dessen Interpretation insgeheim nicht ausstehen konnte (»Er macht Hackfleisch aus ihr und übergießt das Ganze dann mit einer abscheulichen Sauce«), waren Millionen von Amerikanern an ihren Radios gebannt. Die Zeitschrift Time feierte das Ereignis, indem sie »Feuerwehrmann Schostakowitsch« auf dem Cover zeigte; die Zeile darunter lautete: »Trotz der Bomben, die in Leningrad explodierten, hörte er die Akkorde des Sieges.« Während der Saison 1942/43 wurde die Sinfonie zweiundsechzigmal in den Vereinigten Staaten aufgeführt, und viele Konzerte gerieten zu öffentlichen Demonstrationen für eine zweite Front. Entschlossen, nicht wieder von NBC ausgeschaltet zu werden, zahlte CBS der Sowjetregierung 10000 Dollar für Schostakowitschs nächste, noch ungeplante Sinfonie. Der Komponist selbst war, obwohl die Sowjetpresse ihn in den Himmel hob, von alledem entnervt. Später verglich er jeden neuen Erfolg mit einem neuen Sargnagel. 10
    Die letzte und ergreifendste Premiere der Siebten Sinfonie wurde am 9. August 1942 in Leningrad selbst abgehalten. Man hatte die angeseheneren Orchester der Stadt evakuiert, bevor sich der Belagerungsring schloss, weshalb das Rundfunkkomitee-Sinfonieorchester unter Karl Eliasberg die Aufgabe übernahm. Obwohl das Orchester durch die Wehrpflicht erheblich geschwächt worden war, setzte es seine Auftritte auch im Winter der Massentode fort. Es hatte sein letztes öffentliches Konzert (mit Werken von Tschaikowski) am 14. Dezember im eiskalten, blau-weißen Großen Saal der Philharmonie gegeben, und seine letzte Live-Sendung (Ausschnitte aus Rimski-Korsakows Schneeflöckchen ) hatte am Neujahrstag 1942 stattgefunden. (Der erste Tenor, I.A. Lapschenkow, hielt seine Arie kaum durch und starb am selben Abend.) Ein paar Wochen später hörte Berggolz, wie Makogonenko einen Vermerk diktierte: »Erster Geiger – tot. Fagottist – dem Tode nahe. Erster Schlagzeuger – tot.« 11 Insgesamt waren siebenundzwanzig Mitglieder des Orchesters umgekommen.
    Ende Februar 1942 gab das Rundfunkkomitee bekannt, dass man das Orchester neu gründen wolle, und forderte alle noch in der Stadt vorhandenen Musiker auf, sich registrieren zu

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