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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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versprach: Dmitri Schostakowitsch hatte im belagerten Leningrad an einer neuen Sinfonie geschrieben. Der mit seiner Tolle und seiner eulenhaften Brille jünger wirkende Komponist war bei Kriegsausbruch vierunddreißig Jahre alt. Mit dreizehn war das frühere Wunderkind ins Leningrader (damals Petrograder) Konservatorium eingetreten und sechs Jahre später zum sowjetischen musikalischen Establishment gestoßen, als seine Erste Sinfonie von dem großen deutschen Dirigenten Bruno Walter aufgeführt wurde. 1936 kehrte sich seine Karriere dramatisch um, als seine Oper Lady Macbeth von Mzensk , die zwei Jahre vorher eine erfolgreiche Premiere gefeiert hatte, plötzlich von der Prawda als »Chaos statt Musik« geschmäht wurde. Nachdem er in den späten dreißiger Jahren ständig mit einer Verhaftung hatte rechnen müssen, wurde er (wie Anna Achmatowa) nach der deutschen Invasion in die Gemeinschaft zurückgeholt. Er schrieb nicht nur Lieder für die Soldaten, sondern hob auch werbewirksam Schützengräben aus, bewarb sich um Aufnahme in die Volkswehr und wurde mit einem lächerlichen, altmodischen Feuerwehrhelm aus Messing auf dem Dach des Konservatoriums fotografiert. Am 17. September 1941, etwas über eine Woche nach dem Beginn der Belagerung, lud man ihn ins Rundfunkhaus ein, wo er für die Nation einen Text verlas, welcher dem »Der Feind steht vor den Toren«-Leitartikel der Leningradskaja prawda vom Vortag stark ähnelte. Er spreche, wie er den Hörern mitteilte, von der Front. Aber obwohl sich außerhalb der Stadtmauern eine tödliche Schlacht anbahnte, ging das Leben innerhalb der Mauern normal weiter, was durch die Tatsache bewiesen wurde, dass Schostakowitsch zwei Stunden zuvor den ersten Satz einer neuen Sinfonie vollendet hatte.
    Der Erste, dem er die Grundzüge des neuen Werkes an einem »aschgrauen, bedrückenden Tag« vortrug, war sein Sekretär Isaak Glikman:
    Er sagte, daß er mich sehen wollte, um mir den Anfang einer beabsichtigten Komposition zu zeigen, die vielleicht niemand brauchen könne, wo doch dieser unheilvolle Krieg tobe.
    Nach kurzem Zögern setzte er sich an den Flügel und spielte die erhabene, wunderschöne Exposition der Siebten Symphonie und das Variationsthema, das die faschistische Invasion darstellt. Wir waren beide sehr aufgewühlt. Man muß sagen, daß Dmitri Dmitrijewitsch beim Spielen seiner neuen Werke nicht selten Tränen in die Augen traten.
    Wir versanken in Schweigen. Er unterbrach es mit den folgenden Worten (die ich mir aufgeschrieben habe): »Ich weiß nicht, wie sich das Schicksal dieses Stückes entwickeln wird«, und er fügte nach einer Pause hinzu, »unausgelastete Kritiker werden mir sicher den Vorwurf machen, daß ich den ›Bolero‹ von Ravel nachahmen würde. Sollen sie mir den Vorwurf machen, so jedenfalls klingt in meinen Ohren Krieg.« 4
    Ähnlich gerührt war der Komponist Bogdanow-Beresowski. Er gehörte zu einer Gruppe von Musikern, denen Schostakowitsch zwei Tage nach seiner Rundfunkansprache eine längere Version vorspielte:
    Einstimmig baten wir ihn, sie noch einmal zu spielen. Aber die Sirenen ertönten – ein weiterer Fliegeralarm. Schostakowitsch schlug uns vor, eine kurze Pause zu machen, während er seiner Frau und seinen Kindern Galina und Maxim half, den Luftschutzkeller zu erreichen. Uns selbst überlassen, saßen wir schweigend da. Worte schienen unangemessen für das, was wir gerade gehört hatten. 5
    Die Behörden, die den Propagandawert des neuen Werkes erkannten, evakuierten Schostakowitsch und seine Familie Anfang Oktober mit dem Flugzeug nach Moskau. Von dort reisten sie in einem überfüllten Zug (eine schreckliche halbe Stunde lang galt das Manuskript der Sinfonie als verloren) in die Wolgastadt Kuibyschew. Obwohl man sie dort mit mehreren anderen Familien in ein Schulzimmer stopfte und trotz tiefster Sorge um seine Mutter, seine Schwester und seine angeheirateten Verwandten, die in Leningrad zurückgeblieben waren, gelang es Schostakowitsch, die Orchestrierung der Siebten Sinfonie in Kuibyschew abzuschließen.
    Die verschiedenen Premieren – in Kuibyschew am 5. März 1942, in Moskau (im Säulensaal des Kreml) am 29. März, in London und New York im Juni und Juli – wurden zu Sensationen. »Die Siebte Sinfonie«, jubelte die Prawda nach der Aufführung in Kuibyschew, »ist aus dem Gewissen des russischen Volkes hervorgegangen … Hitler konnte Schostakowitsch nicht einschüchtern; Schostakowitsch ist ein russischer Mensch.« 6 Olga

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