Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
Vom Netzwerk:
beiden Frauen waren verhungert. Obwohl Olga die Milizreviere abklapperte und sich den langen, stillen Schlangen vor dem Kresty-Gefängnis anschloss, blieb sie bis zum Sommer des folgenden Jahres im Dunkeln über ihren Bruder. Dann wurde ihr offiziell mitgeteilt, dass er in einem Lager bei Jaroslawl an »Dystrophie« gestorben sei.
    Nach Wowkas Verhaftung erlitt Olga einen Nervenzusammenbruch. Sie war gezwungen, die letzten Wertsachen der Familie an eine habgierige Schulfreundin zu verkaufen (das Teeservice, das ihre Eltern zur Silberhochzeit geschenkt bekommen hatten, brachte nur ein paar Rubel ein, ein Eichentisch war zwei Kilo Hirse wert). Olga hatte das Gefühl, an allen Seiten von Verlust und Verrat bedrängt zu werden, sie wurde von Halluzinationen gequält und verfiel in eine tiefe Depression. Nachdem sie im Rundfunk gehört hatte, dass Kindergartenpersonal gesucht werde, meldete sie sich zur Lehrerausbildung, wo sie jedoch nur in der letzten Reihe saß und schlief:
    Ich wachte selten auf und konnte nichts aufschreiben und mich an nichts erinnern. Zum Glück fanden keine Prüfungen statt, denn ich wäre bei allen durchgefallen. Unter den Studentinnen waren ein paar sympathische Mädchen, aber ich sprach nur wie ein Roboter mit ihnen, und sie hielten mich wahrscheinlich für geistig behindert. Damit hatten sie sogar recht, denn ich kann mich seit Juni an nichts erinnern: nicht an das, was ich aß, wem ich begegnete – an keine Einzelheiten meines damaligen Lebens. Mir war nicht so, als würde ich sterben, sondern als wäre ich bereits tot. 28
    Ihre Erlösung war das Internat Nr. 43, eine straff geführte, gut vernetzte Einrichtung in einem stattlichen Gebäude aus dem neunzehnten Jahrhundert, das einen Block von der Eremitage entfernt an der Newa lag (und dort heute noch liegt). Die Direktorin entsandte die magere, bebrillte Zwanzigjährige mit ihrem um das Haupt gewundenen Zopf und geflickten Socken sofort zur Kartoffelernte in die Schulkolchose, wo sie mit Kohlsuppe aufgepäppelt wurde, tagsüber mit der »Nase in der Erde« döste und sich an den langen, fahlen Abenden ihren Kolleginnen – hauptsächlich gerade verwitwete Universitätsdozentinnen – anvertraute. Im September kehrten sie in die Stadt zurück, und Olga erhielt den Auftrag, Schulbücher auszubessern (»Es war sehr schwer, den Leim, der aus reinem weißem Mehl hergestellt war, nicht zu essen«), bevor sie eine Klasse von fünfunddreißig »nicht mehr hungernden und recht lebhaften« Vierjährigen übernahm. »Sie hüten keine Kinder«, erklärte ihr die Direktorin, »sondern Sie erziehen sie.«
    Es war eine außergewöhnliche Arbeit. Die Lehrerinnen wohnten, zusammen mit hundertzwanzig Vier- bis Siebenjährigen, in der Schule. Nachts schliefen sie, solange sie keine Kinder in den Luftschutzkeller bringen mussten, auf zusammengeschobenen Tischen. Tagsüber unterrichteten sie nicht nur, sondern schürten auch den Ofen, schleppten Wasser zwei Treppen aus dem unbeleuchteten Keller eines Nachbargebäudes hinauf, wuschen und trockneten Laken (Olga hatte sechs Bettnässer in ihrer Gruppe), reinigten Toiletten, klappten Feldbetten auf und zu (viermal am Tag, Nachmittagsschläfchen mitgerechnet) und rasierten den Kindern zur Entlausung die Köpfe. Abends besserten sie die Kleidung der Zöglinge aus, indem sie Knöpfe und Elastikbänder neu verwendeten. Es gab keine Seife, keine Zahnpasta und so wenig Geschirr, dass alle aus Untertassen tranken. Zudem zog man das Personal außerhalb der Schule zu »freiwilliger« Arbeit heran: Sie mussten Gebäude demolieren, um Feuerholz zu gewinnen, und in einem nahen Militärlazarett Bettpfannen leeren. Den Erziehern war war es verboten, vor den Kindern über den Krieg zu sprechen – diese sollten »in eine Welt der Fantasie, der Märchen und der Kunst befördert« werden. Doch die Realität machte sich unvermeidlich bemerkbar. Auf Spaziergängen wetteiferten die Kinder darum, Patronenhülsen von den Flakgeschützen der Kirow zu finden, die am Newa-Ufer ankerte, und in den Pausen betrübten sie Olga durch ihre Spiele:
    Heute entdeckten die Kinder irgendein Loch im Hof und fingen an, tiefer zu graben. Dabei sangen sie: »Los, los, grabt schneller. Unsere Kleinen sind drin. Die Deutschen haben sie alle getötet!«
    Lida: »Mein Wowotschka ist drin!«
    Rufa: »Und meine Lilenka und meine Oma!« …
    Es war sehr schwierig, die Mädchen von diesem Spiel loszureißen, denn es faszinierte sie, und sie kehrten dauernd zu

Weitere Kostenlose Bücher