Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
der Newa errichtet. Am 14. Januar waren die beiden Sowjetfronten nur noch knapp fünf Kilometer voneinander entfernt, und am 18. Januar um 9.30 Uhr trafen sie sich schließlich bei zwei Torffeldern, die als »Arbeitersiedlungen Nr. 1 und 5« in die Geschichte eingegangen sind, in Wirklichkeit jedoch Außenposten des Gulag darstellten. Später am selben Tag befreite die Rote Armee Schlüsselburg. Die Stadt war fast leer, denn nur ein paar Hundert ihrer Bewohner waren nicht an Hunger gestorben oder mit den Deutschen geflohen.
In Leningrad drängten sich Menschenmengen um die Lautsprecher an den Straßenecken. »Ein ungewöhnlicher Tag«, schrieb Vera Inber am 16. Januar:
Die ganze Stadt wartet. Wir haben Schlüsselburg befreit – das ist gewiß. Man sagt aber auch, daß unsere beiden Fronten (die Leningrader und die Wolchowfront) sich vereinigt haben. Offiziell ist es noch nicht bekannt. Aber die Stadt wartet.
Irgendwo schießt die Artillerie. Erst ganz vor kurzem war der Fliegeralarm zu Ende: das Leben der belagerten Stadt geht weiter. Aber alle warten. Niemand spricht darüber. Alle scheinen zu fürchten, daß ein unangebrachtes Wort dorthin dringen würde, wo sich unser Schicksal entscheidet und dort womöglich etwas ändern könne … Ich bin verwirrt. Ich finde keine Ruhe. Ich versuche zu schreiben, aber es geht nicht. 7
Die offizielle Ankündigung folgte zwei Tage später in riesigen Buchstaben auf Plakaten überall in der Stadt. »Die Blockade ist gesprengt! Die Blockade ist gesprengt!«, jubelte Anna Ostroumowa-Lebedewa. »Welches Glück, welche Freude! Die ganze Nacht hat niemand geschlafen. Manche weinten vor Entzückung, andere feierten, noch andere stießen nur Rufe aus … Wir sind nicht mehr vom Vaterland abgeschnitten! Wir teilen einen Puls mit ihm!« 8 – »Alle beglückwünschen einander«, schrieb Dmitri Lasarew, »erzählen, wie und von wem sie die Nachricht hörten – wie Frauen aus den Büros der Hausverwalter auf die Straße liefen, wer wen küsste, wer sich bekreuzigte … Egal, wie heftig oder häufig die Luftangriffe und die Bombardierungen sind: Die Blockade ist gesprengt – es ist der Anfang vom Ende!« 9
Es war der Anfang vom Ende, doch nicht mehr. Der Sieg war nach sowjetischen Maßstäben nicht besonders hoch bezahlt (34000 Tote, Vermisste oder Gefangene), aber keineswegs vollständig gewesen. 10 Die Rote Armee hatte die deutsche Umklammerung am Ladogasee gelöst, doch sie hatte nur einen engen Korridor, acht Kilometer breit an der schmalsten Stelle, zum »Festland« freigelegt. Südlich und westlich von Leningrad verharrten die deutschen Heere weiterhin in den äußeren Vororten. (Fritz Hockenjos, der von seinem neuen Beobachtungsposten – wiederum ein Klosterglockenturm – am Finnischen Meerbusen hinüberspähte, konnte Autos und Fußgänger auf den Straßen erkennen und die Fenster eines Regierungsgebäudes zählen. 11 ) Im Februar 1943 sollte eine zweite Operation, mit dem Codenamen Polarstern, die Belagerung völlig aufheben, indem die Rote Armee die deutsche 18. Armee im Westen umzingelte und ihre Eisenbahnverbindung zur Etappe in Pskow kappte. Die Operation scheiterte jedoch infolge des Regens, Hitlers später Vorsicht nach Stalingrad und der spanischen Blauen Division, die ihre Stellungen in Krasny Bor durch blutige Grabenkämpfe verteidigte. (Hockenjos, der die Spanier als Caballeros und »Operettentenöre« abgetan hatte, nahm seine Worte wahrscheinlich zurück.)
Der Korridor ermöglichte immerhin – mit Hilfe einer Pontonbrücke über die Newa hinweg – den Bau einer provisorischen, vierunddreißig Kilometer langen Eisenbahnlinie nach Leningrad. Der erste Zug direkt vom »Festland« rollte am 7. Februar in den Finnischen Bahnhof, wo man ihn mit Reden, Fähnchen und einer Blaskapelle begrüßte. Geschmückt mit eichenblattumkränzten Porträts Stalins und Molotows sowie einem Banner mit der Aufschrift »Tod den faschistischen deutschen Usurpatoren!«, soll der Zug Butter (»für die Kinder Leningrads«) und junge Katzen an Bord gehabt haben (wegen einer Rattenplage war die Nachfrage nach den Letzteren größer). Die Bahnlinie, obwohl durch Beschuss gefährdet, bis die Deutschen im September schließlich von den Sinjawino-Höhen vertrieben wurden, ergänzte die inzwischen besser funktionierenden Eis- und Schiffsrouten über den Ladogasee.
Innerhalb der Stadt war die Stimmung von 1943 durch gespanntes, angestrengtes Warten gekennzeichnet: auf eine zweite Front;
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