Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
einzusetzen, die seit Frühjahr 1942 in hoher Zahl der Wehrpflicht unterlagen. Nach Kriegsbeginn erfüllten sie – überwiegend, wie ihre männlichen Kameraden, knapp unter oder über zwanzig Jahre alt – vor allem Hilfsfunktionen, doch nun wurden sie auch als Pilotinnen von Jagd- und Bombenflugzeugen, als Flugabwehrkanoniere, Beobachterinnen, Scharfschützinnen, Minenräumerinnen und gewöhnliche Infanteristinnen ausgebildet. Der verblüffte Fritz Hockenjos schrieb: »Vormittags sah einer meiner Posten drüben ein Flintenweib zurückgehen. Spasseshalber schoß er ihr nach, sie ging in Deckung, sprang, wandte sich, schoß zurück und sprang weiter – so gut wie irgendein gut gedrillter Soldat. Hoffentlich bekomme ich nie mit derlei Weibern zu tun.« Später, während eines russischen Angriffs bei Pskow, berichteten seine Männer, sie hätten gesehen, wie Soldatinnen mit Matten voranliefen, »um sie für die nachfolgende Sturminfanterie über unsere Drahthindernisse zu werfen. Sie werden zusammengeschossen und die Infanterie auch. Die Männer der Elften, als sie mir davon berichteten, verbargen ihren Schauder unter derben Witzen. Als ich sie fragte, woran sie denn gemerkt hätten, daß es Weiber waren, grinsten sie: ›Beim Springen, da hat alles an ihnen so geschwabbelt!‹« 5 Bei Kriegsende hatten rund 800000 Frauen in der Roten Armee gedient.
Die Tatsache, dass der Krieg im Osten umschlug, wurde der Welt bei Stalingrad deutlich, der kleinen Stadt an der Wolga, weniger als zweihundert Kilometer von der heutigen russischen Grenze mit Kasachstan entfernt. Stalingrad gilt immer noch als das Symbol für sowjetische Hartnäckigkeit und nationalsozialistische Selbstüberschätzung. Die Stadt wurde seit August 1942 belagert und schien der Niederlage nahe zu sein, bis Schukow Mitte November eine ehrgeizige Umzingelung von Paulus’ 6. Armee begann. Mitte Dezember scheiterte ein von Manstein geleiteter Versuch, die 6. Armee zu befreien, und nach sieben weiteren Wochen schrecklichen Gemetzels kapitulierte Paulus mit mehr als 90000 Soldaten. In seiner Wolfsschanze zeigte sich Hitler besonders wütend darüber, dass Paulus nicht Selbstmord begangen hatte: »Was heißt das Leben? … Der einzelne muß ja sterben. Was über dem einzelnen Leben bleibt, ist das Volk … Er konnte sich von aller Trübsal erlösen und in die Ewigkeit, in die nationale Unsterblichkeit eingehen, und er geht lieber nach Moskau.« 6 Die gleiche wenig optimistische Botschaft war auf die Feldpostkarten gedruckt, die Hockenjos seiner Frau nach Hause schickte: »Es ist gänzlich unwichtig, ob wir leben, aber notwendig ist, daß unser Volk lebt, daß Deutschland lebt.«
Für Leningrad, das nur noch ein Fünftel seiner Vorkriegsbevölkerung besaß, war der zweite Belagerungswinter nicht mit dem ersten zu vergleichen. Wieder zogen sich die Haushalte in einzelne Zimmer zurück, die mit qualmenden burschuiki geheizt wurden, wieder versiegelten sie die Fenster und legten Lebensmittel- und Feuerholzvorräte an. Aber der Winter war milde, mehr Wohnungen verfügten nun über Strom und Wasser, und das Rationsniveau war das gleiche wie in Moskau: Die Massentode von 1941/42 wiederholten sich nicht.
Karte 6: Die Blockade ist gebrochen, Januar 1942
Während die Schlacht um Stalingrad noch auf dem Höhepunkt war, ordnete Stalin einen weiteren Vorstoß zur Befreiung Leningrads an. Diese Operation trug den Codenamen Iskra (»Funke«) und war im Wesentlichen eine besser geplante und mit besserer Bewaffnung durchgeführte Neuauflage der Sinjawino-Offensive vom vorhergehenden August. Die Leningrader Heere sollten die Newa an drei Stellen westlich von Schlüsselburg überschreiten, während die Wolchower Streitkräfte nach Westen vordringen und sich südlich von Ladoga mit ihnen zusammenschließen würden. Ein erster Versuch, die Newa mit Panzern zu überqueren, schlug fehl, da das Eis ihr Gewicht noch nicht tragen konnte. Die Operation wurde bis zum 12. Januar verschoben, als die Temperatur auf –15 °C gefallen war. Geleitet von Schukow, begann sie bei Tagesanbruch mit einem zweistündigen Sperrfeuer aus mehr als 4500 Geschützen. Diesmal gelangten die Panzer ans andere Ufer – und zwar mit Hilfe ausgeklügelter Pontons, die im Schutz der Dunkelheit in Position gebracht und mit Wasser, das man unter dem Eis herausgepumpt hatte, eingefroren worden waren. Am Tagesende hatte die Rote Armee einen fünf Kilometer langen und einen Kilometer breiten Brückenkopf am Südufer
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