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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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Provinz, fern von medizinischer Versorgung und dem Verkehrs- und Nachrichtenwesen. Ein extremer Fall war Kinderheim Nr. 82, dessen 135 Waisen in zwei kleinen unbeleuchteten Hütten in einer winzigen westsibirischen Siedlung untergebracht wurden, fünfundzwanzig Kilometer vom nächsten Telegrafen und achthundert Kilometer von der Eisenbahn entfernt. 21 Irina Bogdanowa fand sich mit ihrem Kinderheim Nr. 57 in einem Dorf in der Gegend von Jaroslawl wieder. Das dortige Leben sei »schwer, aber gut« gewesen. Die Kinder schliefen auf Heumatratzen und mussten ernsthafte Arbeit leisten: Sie sammelten Pilze und Beeren – nichts davon durfte gegessen werden, bevor die Norm nicht erfüllt war – und wurden geächtet, wenn man sie beim Diebstahl von Lebensmitteln erwischte. Irina musste sich vor der ganzen Schule entschuldigen, nachdem sie auf dem Heimweg von der Dorfbäckerei Brotkrumen aus einem Laib gepickt und sie mit Lindenknospen vermischt hatte: »Sie waren süß und klebrig und passten so gut zum Brot – noch heute erinnere ich mich an den Geschmack.« 22
    Für Kinder wie für Erwachsene brachte die Erholung natürlich noch anderes als nur bessere Rationen mit sich. Überlebende erzählen von hartnäckiger Sorge, Stumpfsinn, Misstrauen gegenüber Erwachsenen und Besessenheit von Nahrung. Auf die Frage, ob sie gern Pfefferkuchen möge, verstand ein in den Ural evakuiertes Mädchen den Sinn der Worte nicht: »Ich saß da und überlegte, was dieses ›Schön‹ oder ›Nicht schön‹ bedeutete … Was ist das für eine Wendung: ›Ich möchte nichts essen‹?« Abends schlich sie hinaus und grub auf einem Acker nach Brot, das ihrer Meinung nach wie Kartoffeln unter der Erdoberfläche wuchs. »Ich glaubte, nur ein kleines Loch buddeln zu müssen, und dann würde ich einen frischen Laib finden. Den würde ich mitnehmen und mich satt essen.« 23 Eine Ärztin gab den Kindern auf ihrer Station Zeichenmaterial. Eines skizzierte ein Zifferblatt mit der Überschrift: »Dies ist unsere Uhr. Sie lässt uns wissen, wann wir das nächste kleine Stück Brot essen dürfen.« Ein neunjähriger Junge zeichnete ein großes schwarzes Quadrat. 24 Vera Inber wurde gebeten, einen Erzählungswettbewerb zu beurteilen. Eine Teilnehmerin stellte sich die Gemüsesorten, die sie auf ihrer Schulparzelle anbaute, als winzige Personen mit grünen Beinen und Köpfen vor. Diese Zwerge liefen die Treppe eines Wohngebäudes hinauf, um ein schmächtiges Mädchen mit goldenen Haaren zu retten, und sie sprinteten durch Artilleriefeuer zu einem Unterstand der Roten Armee. 25 Andere Kinder horteten zwanghaft Essbares, sammelten Brotkrümel in Streichholzschachteln, wurden zu Stotterern oder sprachen überhaupt nicht mehr. 26 Für die Lehrer bestand eines der erfreulichsten Anzeichen der Erholung darin, dass ihre Schüler wieder anfingen, sich schlecht zu benehmen. Ein Mädchen, das sich bei der Schuldirektorin melden musste, weil sie hinaus auf die Straße gelaufen war, begriff erst später, warum die Frau in Tränen ausgebrochen war: »Jetzt verstehe ich, warum sich die Lehrer freuten, denn das war das erste kindliche Vergehen, überhaupt kehrten die Kinder ins Leben zurück, das war klar und für sie äußerst erfreulich.« 27
    Durch eine Schule wurde auch Olga Gretschina gerettet – allerdings nicht als Schülerin, sondern als Erzieherin. Seit Kriegsbeginn hatte sie Schützengräben ausgehoben, in Fabriken gearbeitet, Schnee geräumt, war mehrere Male knapp dem Tod durch Luftangriffe entgangen und hatte ihre Mutter durch die Hungersnot verloren. Ihr sechzehnjähriger Bruder Wowka war zu einem Fremden geworden, der nur noch selten in der Wohnung erschien. In solchen Fällen hatte er merkwürdige neue Gegenstände bei sich: Kleidungsstücke, ein Fahrrad und Gläser mit halb verfaulten eingelegten Tomaten, die er sich, wie er abenteuerlicherweise behauptete, von Verwandten geliehen oder in den Kellern des Smolny gefunden habe. »Schon jetzt«, schrieb Olga, »war er nicht mehr derselbe glückliche kleine Elefant, den alle meine Schulfreundinnen verehrten, etwas feige und nicht sehr scharf auf den Unterricht.« Im Mai 1942 klärte sich die Sache auf, als sie erfuhr, dass er wegen Diebstahls verhaftet worden sei – nicht nur aus Brotläden, sondern auch von Nachbarn und Verwandten, darunter zwei unverheiratete Tanten, deren Lebensmittelkarten er an sich genommen hatte, um für sie die Rationen abzuholen. Er hatte sein Versprechen nicht gehalten, und die

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