Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
gedacht, sondern auch »an ganz andere Feinde der Menschheit … Ich empfinde unstillbaren Schmerz um alle, die Hitler umgebracht hat. Aber nicht weniger Schmerz bereitet mir der Gedanke an die auf Stalins Befehl Ermordeten. Ich trauere um alle Gequälten, Gepeinigten, Erschossenen, Verhungerten. Es gab sie in unserem Lande schon zu Millionen, ehe der Krieg gegen Hitler begonnen hatte.« 15
Die zweite große erhebende Geschichte von 1942 ist die der Leningrader Kinder. Zu Beginn der Belagerung machten Kinder unter zwölf Jahren nicht ganz 20 Prozent der Zivilbevölkerung von 2,4 Millionen aus. Bis Mai waren 170000 entweder gestorben oder über die Eisstraße evakuiert worden; Tausende mehr hatten ihre Eltern verloren oder wurden aus anderen Gründen nicht mehr versorgt. 16 Eine der am häufigsten zitierten Aufzeichnungen jener Zeit, mit Bleistift über die Seiten eines kleinen Adressbuchs gekritzelt, ist die der zwölfjährigen Tanja Sawitschewa:
28. Dezember 1941 um 12.30 Uhr morgens – Schenja starb. 25. Januar 1942 um 3 Uhr nachmittags – Oma starb. 17. März um 5 Uhr morgens – Ljoka starb. 13. April um 2 Uhr morgens – Onkel Wasja starb. 11. Mai um 4 Uhr nachmittags – Onkel Joscha starb. 13. Mai um 7.30 Uhr morgens – Mama starb. Die Sawitschews sind tot. Alle sind tot. Nur Tanja ist noch übrig.
Seit Januar suchten Gruppen von Zivilschutzarbeitern, hauptsächlich junge Frauen um die zwanzig, »tote« Wohnungen auf, um Kinder wie Tanja mitzunehmen. Sie wurden in Empfangszentren der Miliz gebracht, ähnlich denen, die man fünf Jahre vorher für die Nachkömmlinge von Säuberungsopfern eröffnet hatte. Von dort gelangten Drei- bis Dreizehnjährige in 130 neue Kinderheime (98 in der Stadt, 32 in umliegenden Orten und Dörfern), die zwischen Januar und März eingerichtet worden waren. Bis Jahresende nahmen die Heime 26250 Kinder auf; davon waren 54 Prozent verwaist, und 30 Prozent hatten nur noch einen Elternteil, der beim Militär diente. 17
Ältere Kinder wurden Zivilschutzteams oder Fabriken – entweder direkt oder durch Vermittlung von Gewerbeschulen – zugeteilt. Die vierzehnjährige Galina Wischnewskaja, die von ihrem Vater und ihrer Stiefmutter in Kronstadt zurückgelassen worden war, schloss sich einer nur aus Frauen bestehenden Zivilschutzbrigade an. Sie wohnte in Kasernen, trug einen Overall und lernte, Bretter auf den Schultern zu tragen, zerbrochene Rohre auszugraben, Wodka zu trinken, Machorkas zu rauchen und Jazzmelodien für Seeleute zu singen. Es war, wie sie es in ihren Erinnerungen ausdrückte, »kein Institut für hochgeborene junge Damen«. Auf diese Weise habe sie das wirkliche Leben kennengelernt. 18
Ein anderes überlebendes Kind – von damals acht Jahren – war Irina Bogdanowa. Mehrere Tragödien hatten ihre Familie bereits während des Terrors heimgesucht, als man ihre Großeltern väterlicherseits in die Verbannung nach Archangelsk schickte und als ihr Vater, ein Journalist bei der Leningradskaja prawda , Selbstmord beging. Irina, ein dralles, hübsches Mädchen mit weißen Socken und blonden Zöpfen, wurde von ihrer Mutter (einer oft abwesenden Geologin), ihrer Tante und ihrer Großmutter in einer Wohnung in der Barmalejew-Straße an der Petrograder Seite aufgezogen. Im Februar 1942 fiel eine Erwachsene nach der anderen der Ruhr zum Opfer, und schließlich blieb Irina allein mit den Leichen ihrer Mutter und ihrer Großmutter zurück. Zehn Tage später wurde sie von einer einundzwanzigjährigen Zivilschutzarbeiterin gefunden, die sie der Miliz mit ihrer Kleidung und ihrer unbenutzten Lebensmittelkarte übergab (»Wie ehrlich es unter solchen Umständen von ihr war, die Karte nicht an sich zu nehmen!«, ruft Irina heute aus). Auf ihr Anmeldeformular schrieb jemand zuerst »Junge« und korrigierte den Eintrag dann zu »Mädchen«. Die Tage, die sie allein verbracht hatte, sind wie ausradiert, und Irina erinnert sich als Erstes daran, dass sie in einem großen, hellen Raum aufwachte, wo sie feststellte, dass das Mädchen, mit dem sie ein Bett teilte, tot war. Dies kam nicht selten vor: Von den 4508 Kindern, die ihn zehn vorstädtische Heime eingewiesen wurden, starben 682, zumeist innerhalb von Tagen nach ihrem Eintreffen. 19
Im Frühjahr und Sommer 1942 evakuierte man die Waisenhäuser – mit insgesamt 38080 Kindern – auf das »Festland«. 20 Von einer überlasteten Ortsverwaltung zur anderen geschoben, waren sie häufig wochenlang unterwegs und landeten in der tiefsten
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