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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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erinnern!«
    »Alpenveilchen!«
    »Ach ja, Alpenveilchen!«
    Ein paar Tage später kamen Njuscha und sie knapp davon, als ein Geschoss zwei Zimmer weiter das Dach durchbohrte und bis ins Parterre hinunterstürzte. Danach suchten sie bei Luftangriffen einen Schutzkeller auf, zogen jedoch nicht fort.
    Das Artilleriefeuer behinderte auch die Arbeit in der Sudomech-Werft. Am 18. April schlugen 31 Granaten in Wassili Tschekrisows Werkstatt ein, die daraufhin verlegt werden musste. »Meine Mädchen waren dort, als es begann«, notierte er beifällig, »aber bevor sie hinausgingen, schlossen sie ab. Gut gemacht … Am Abend betätigten sich alle als Glaser und vernagelten die Fenster mit Sperrholz.« 16 Wenn er sich nicht Bombenschäden widmen musste, verbrachte er einen großen Teil seiner Zeit damit, für das Personal mit der Bürokratie zu kämpfen:
    Eine interessante Tatsache. Ein Mädchen kam aus dem Krankenhaus und ging zu ihrem Wohnheim. Es war verlegt worden. Niemand wusste, wohin. Kein Besitz, kein Geld, keine Karten. Der Bezirkssowjet schickte sie zu uns. Es wird sechs Tage dauern, die Sache abzuwickeln. In der letzten Nacht schlief sie draußen auf einem Hof. Heute ist Sonntag, deshalb können wir sie nicht registrieren, und ohne Registrierung dürfen wir ihr keinen Platz in unserem Wohnheim geben. Und sie kann keine neuen Karten bekommen … Ich beschloss, sie zu den Kleingartenorganisatoren zu schicken, aber auch dort erhält sie bis Dienstag keine Karten. Ohne Lebensmittelkarten wird sie hungern und in drei Tagen wieder im Krankenhaus sein … Also habe ich mit der Kantine abgesprochen, dass sie dort heute und morgen verpflegt wird, doch wird man es tatsächlich tun? Das ist ein Beispiel für die Arbeit, die mich seit zehn Tagen in Anspruch nimmt. Überall herrscht Mangel an Arbeitskräften, und diejenigen, die wir haben, setzen wir unproduktiv ein. 17
    Abgesehen von diesen Alltagsproblemen beschäftigte Tschekrisow sich auch weiterhin mit der virtuellen Realität der Parteipolitik. Auf einer Versammlung im Juli inszenierte die Parteiorganisation der Fabrik eine Säuberung im kleinen Maßstab. Ein Mann wurde zum Tode verurteilt, und sieben erhielten lange Gefängnisstrafen. Man hatte ihnen vorgeworfen, bei Lebensmitteldiebstählen mit der Führung der Werft konspiriert sowie »Vorbereitungen zum Empfang der Deutschen« getroffen zu haben. Obwohl Tschekrisow selbst in den dreißiger Jahren zu Unrecht aus der Partei ausgeschlossen worden war, scheint er keine Zweifel an der letzteren Anklage gehabt zu haben, denn er fragt in seinem Tagebuch: »Wie konnte dem Partorg so etwas entgehen?«
    Auch in anderen Einrichtungen setzten sich die Repressionen fort. Jakow Babuschkin, der lebhafte und freimütige Radioproduzent, der die Schostakowitsch-Premiere organisiert hatte, wurde im April vom Rundfunkhaus entlassen, womit er seine Freistellung von der Wehrpflicht verlor. Er fiel im Juni an der Front. 18 In dem zum Lazarett umgewandelten Hotel Jewropa wurde Marina Jeruchmanowa, die Zwanzigjährige, die den Massentod als Pflegerin überlebt hatte, als Zeugin in einer Verhandlung gegen den Verwaltungschef vorgeladen, einen Mann, den das Personal wegen seiner Fairness, Offenheit und seines Charmes bewunderte. Nur von Marina verteidigt – die naiverweise angenommen hatte, dass auch andere für ihn eintreten würden –, wurde er wegen »konterrevolutionärer Tätigkeit« nach Artikel 58 der Strafgesetzgebung für schuldig befunden – »dazu nach endlosen anderen Ziffern und Buchstaben. Das ganze Alphabet schien nicht auszureichen, um seine Verbrechen aufzuzählen.« Marina – fassungslos beim Anblick ihres unrasierten, gürtellosen und zutiefst resignierten Chefs – wurde zusammen mit ihrer Mutter und Schwester hinausgeworfen. 19
    Nach dem partiellen Durchbruch vom Januar 1943 kam es im Norden Russlands mehrere Monate lang kaum zu ernsthaften Kämpfen. Ein vorzeitig einsetzendes Frühjahrstauwetter störte die Truppenbewegungen, und mit Ausnahme eines weiteren erfolglosen Versuchs im Juli, den Landkorridor zum »Festland« zu erweitern, wandte sich die Aufmerksamkeit dem Zentrum und Süden zu, wo sich die großen Gegenoffensiven der Roten Armee nach der Schlacht von Stalingrad beschleunigten. Rostow am Don wurde im Februar befreit; Charkow war, nach mächtigen Panzerschlachten im Juli bei Kursk, Ende August an der Reihe. Am 3. September erhielt Stalin endlich seine zweite Front, als die Alliierten in Italien

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