Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
Vom Netzwerk:
erhöhten die Belastung, denn zwischen Januar und Mai gab es durchschnittlich etwas mehr als einen Fliegeralarm pro Nacht. 13 Auch der Kanonenbeschuss, besonders schlimm in der ersten Jahreshälfte, wurde so präzise, dass man Straßenbahnhaltestellen verlegen und die gerade wieder eröffneten Kinos Aurora und Jugend schließen musste. 14 Das Sperrfeuer nahm nun ein festes Muster an und fiel morgens und abends mit der Fahrt zur Arbeit zusammen. Besonders heftig war es an öffentlichen Feiertagen (am 1. Mai schwankte Vera Inbers Haus »wie eine Schaukel«) und an Tagen, an denen (mittlerweile nicht mehr seltene) Sowjetsiege bekannt gegeben wurden. Zu den nachweislich »glücklichen« Orten gehörten der Alexanderplatz mit der Statue Katharinas der Großen inmitten ihrer Generale und Höflinge sowie das Rundfunkhaus, dessen Bleifundamente angeblich aus seiner Zeit als japanisches Konsulat stammten. Unglückliche Stellen waren der Liteiny (mit der »Teufelsbrücke«), der Platz vor dem Finnischen Bahnhof (»Tal des Todes«) und die Ecke von Newski und Sadowaja, gegenüber der Öffentlichen Bibliothek. Am 8. August entgingen Maschkowas Kinder dort auf dem Heimweg von einem Angelausflug knapp dem Tod: »Plötzlich kamen sie nach Hause, und Worte sprudelten aus ihnen hervor über abgetrennte Gliedmaßen, Blut, einen zermalmten Lastwagen – und im selben Atemzug über die drei kleinen Fische, die sie gefangen hatten und die noch in ihrem Netz zappelten. Ich küsste und umarmte sie, war außer mir vor Freude und fühlte mich zugleich völlig gebrochen.« 15
    Anna Ostroumowa-Lebedewa wohnte noch mit ihrem Dienstmädchen Njuscha, deren einziger Sohn im Vorjahr an der Front gefallen war, an der Wyborger Seite. Bei Luftangriffen schliefen sie im Flur – Ostroumowa-Lebedewa auf einem Klappstuhl, Njuscha auf einer Truhe. Nach jedem Einschlag »hüpfte« das Gebäude, fielen Töpfe von den Regalen, ratterten Geschosshülsen von Flakkanonen wie getrocknete Erbsen über das Dach und zeigten sich neue Risse in der Decke. Einmal flog ein Bombensplitter durchs Fenster herein und blieb in einem Sessel stecken. Sie wussten, dass das Gebäude, wenn eine Brandbombe in der Dachkammer landete, mit einiger Sicherheit abbrennen würde, denn es gab keine anderen Bewohner mehr, die Wache schieben konnten. Morgens waren die Gehsteige mit knirschenden, glitzernden Glasscherben bedeckt. Ostroumowa-Lebedewa wurde durch ihre Arbeit – ihr erster Holzschnitt nach dem Hungerwinter markierte einen speziellen Moment, ihre Werkzeuge glitten so zügig wie immer in das Holz – sowie durch die Güte eines treuen Freundeskreises, hauptsächlich jüngere Künstlerinnen, am Leben erhalten. Zu ihrem zweiundsiebzigsten Geburtstag am 15. Februar 1943 brachten sie ihr eine Kerze, einen halben Liter Milch (für den die Spenderin jeweils fünf Kilometer hin und zurück zu einem Krankenhaus gegangen war), ein Päckchen Tee, drei Bonbons und zwei Suppenlöffel Kaffee. Njuscha überreichte ihr ein Stück Küchenseife. »Sämtlich willkommene und nützliche Geschenke … [Wir] sprachen nicht über Essen, Rationen, Brot, Dystrophie und so weiter, sondern über Bücher, Kreativität, Kunst – über die Dinge, die mir am Herzen liegen, für die ich lebe.« Im Sommer machte sie sich zu Spaziergängen auf, betrauerte die Schäden an ihren Lieblingsgebäuden und pflückte Klee und Butterblumen, die im hohen Gras am Rand der Bürgersteige wuchsen. Das Unkraut gab ihr das Gefühl, auf »freier Erde, irgendwo auf einem Feld« unterwegs zu sein. »Diese bescheidenen Blumen, so zart und vergänglich, erfüllen meine Seele mit Frieden und Glück.«
    Sie flüchtete sich nicht mehr in die Tagebücher ihrer Kindheit, mit den Notizen über Italienreisen zur Jahrhundertwende und Aquarellskizzen von Lugano und dem Simplonpass. Ihre neuen Aufzeichnungen schrieb sie an ruhigen Tagen im Krankenhausgarten, zwischen Splittergräben und Gemüsebeeten, oder während der Luftangriffe im fensterlosen Badezimmer auf einem über dem Waschbecken liegenden Brett. Während des Sperrfeuers in einer heißen Nacht Ende Juli rief eine Freundin an, um sich zu erkundigen, ob alles in Ordnung sei:
    Durch das Pfeifen und Donnern der Granaten hindurch rief ich: »Wir sind noch hier! Wir sind noch hier!« Und da mir einfiel, dass sie im Ausland gewesen war, fragte ich: »Meine Güte, wie heißen denn die Blumen, die ganz oben im Schnee wachsen, in den Alpen? Ich versuche schon den ganzen Tag, mich daran zu

Weitere Kostenlose Bücher