Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
Bahn geraten lässt. In meinem Kopf verdreht sich alles zu einem straffen Knoten. Niemand kann sich an so etwas gewöhnen. Unkontrollierbares Zittern überkommt mich, mein Herz zieht sich zusammen. In jeder Sekunde rechnest du mit der Granate, die dein Leben beenden wird.« An jenem Abend ließen die Nachrichten sie vor Freude weinen: Peterhof, Krasnoje Selo, Rapscha und achtzig Dörfer am Wolchow waren befreit.
Vera Inber, die wie gewöhnlich versuchte, in ihrem Zimmer im Erisman-Krankenhaus zu arbeiten (»Lieber Gott, welch ein Getöse!«), beobachtete, wie Busse des Roten Kreuzes zu den Bahnhöfen fuhren und verwundete Soldaten abholten. Wie viele, überlegte sie, mochten in sämtlichen Krankenhäusern der Stadt sein? Undenkbar, dass ihr Opfer umsonst gewesen war. Am Morgen des 22. Januar – an dem Sonntag, nachdem Mga befreit worden und von Küchler zur Wolfsschanze geflogen war, um die Genehmigung zur Aufgabe von Puschkin und Sluzk zu erbitten – wurde sie vom Schriftstellerverband angerufen und aufgefordert, eine Stunde später eine Pressereise durch das gerade befreite Peterhof anzutreten. Während der Fahrt durchquerte die Gruppe die gerade verlassenen Schlachtfelder. An den Straßenseiten waren manche Dörfer nur noch als Geröllwälle zu erkennen; die Felder, durchzogen von Schützengräben und aufgewühlt von Artilleriefeuer, waren so braun, als hätte man sie gerade gepflügt. Pioniere arbeiteten mit ihren Hunden an einem Graben; entschärfte Granaten, gerippt und silbern wie gefangene Fische, lagen in Reihen auf den Grasstreifen. Der Ort Peterhof war nicht wiederzuerkennen, eine »seltsame, weiße, mondähnliche« Landschaft mit den sonderbar geformten Bruchstücken einer Ziegelmauer und einer zertrümmerten Kirche. Rastrellis großer Barockpalast war völlig ausgebrannt – »so weit zerstört«, nahm Inber sofort an, »daß keine Menschenkräfte imstande sind, ihn wiederherzustellen«. Auf der Heimfahrt im Dunkeln bemerkten sie im Licht eines brennenden Hauses eine Kolonne von Kriegsgefangenen. Diese schmutzigen und unrasierten Männer waren die ersten Deutschen, die sie während des ganzen Krieges zu Gesicht bekam.
Um 20 Uhr am 27. Januar 1944 – vier Tage nach dem Einschlag des letzten deutschen Geschosses in Leningrad – erreichte Inber nach einer Parteiversammlung den alten, als Marsfeld bekannten Exerzierplatz am Fluss gerade noch rechtzeitig zum offiziellen Siegessalut. Parks, Brücken und Uferdämme waren voll von Menschen, Panzern und Militärmotorrädern. Von den Werften im Westen bis zum Smolny im Osten feuerten 324 Kanonen 24 Salven ab; Flammen schossen aus ihren Mündungen »wie Höllenfeuer auf alten Bildern«. Leuchtsignale erstrahlten über der Newa, und ihr Scharlachrot, Grün, Blau und Weiß spiegelte sich auf dem Eis und in der Menge der zum Himmel schauenden Gesichter wider. Ein Scheinwerfer richtete sich auf den vergoldeten Engel an der Spitze des Peter-und-Paul-Turmes; der Strahl war so hell und scharf, dass er wie eine massive Brücke hinauf zum Firmament wirkte. »Das größte Ereignis im Leben Leningrads«, schrieb Inber am selben Abend in ihr Tagebuch. »Seine vollständige Befreiung von der Blockade.« Und obwohl sie von Beruf Schriftstellerin war, fehlten ihr die Worte. Sie stellte schlicht fest, dass Leningrad frei war. 27
TEIL V
NACHWIRKUNGEN
Selten besuche ich die Erinnerung,
Und sie überrascht mich stets.
Wenn ich mit einer Lampe in den Keller steige,
Scheint mir, dass wieder ein Erdrutsch
Über die schmalen Stufen poltert.
Die Lampe räuchert, ich kann nicht umkehren,
Und ich weiß, dass ich mich dem Feind nähere.
Anna Achmatowa, 1940
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Heimkehr
Das Ende, wie das Ende aller großen Konflikte, hinterließ eine enorme Stille – die Stille verstummter Sirenen und Geschütze, der nie wiederkehrenden Vermissten und Toten, des unausgedrückten Kummers und Entsetzens, der gefälschten oder unausgesprochenen Fakten. Zugleich brachte das Ende neue Anfänge mit sich: militärisch gesehen, den Beginn des großen sowjetischen Vorstoßes nach Berlin; in privater Hinsicht den der Anerkennung von Verlusten und des Neuaufbaus des eigenen Lebens; öffentlich betrachtet, den der Neubevölkerung und Reparatur einer leeren und beschädigten Stadt; politisch gesehen, den Anfang einer neuen Serie von Repressionen.
Das Ende der Belagerung bedeutete noch nicht das Ende der Kämpfe. Die Rote Armee brauchte zwar nur drei Wochen, um Küchlers 16. und 18. Armee zurück zur
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