Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
darauf, dass der Beschuss und die Luftangriffe aufhörten; dass der Krieg endete und das normale Leben wieder begann. Alle litten weiterhin unter stechendem Hunger. Die Bibliothekarin Maria Maschkowa wurde von Wellen der Depression überwältigt, in deren Verlauf sie sich für nichts interessierte und durch ständige Gedanken an Brot und Kascha erschöpft wurde. Obwohl ihre Wohnung nun sauber und warm war, über Strom, Toilette, Telefon und Radio verfügte, fühlte sie sich dauernd ausgelaugt und gereizt. Bei der Arbeit schienen ihr die Aufgaben »durch die Hände zu gleiten«, zu Hause wurde sie von Schuldbewusstsein über ihre Unfähigkeit gequält, sich an ihren Kindern zu erfreuen. Ihr ausgezehrter, an Rheuma leidender Mann hatte sich zurückgezogen, sprach kaum und schlief abends »wie ein Murmeltier«, während sie grollend Socken stopfte oder Die Brüder Karamasow las. Den Klatsch ihrer Freundin Olga Berggolz über Flirts und Eifersüchteleien im Rundfunkhaus fand sie unverständlich, und der Anblick einer Frau, die ihr Kind im Wartezimmer eines Arztes stillte, kam ihr geradezu abstoßend vor. Sie rechnete aus, dass das Baby im Februar oder März des Vorjahres gezeugt worden war – »in den Monaten, als Menschen zu Hunderttausenden zusammenbrachen, an Hunger starben, als die Leichenhallen voll und Tote mit schwarzen, faltigen Gesichtern überall waren. Und bei alledem der Beginn eines neuen Lebens! Wo hatten sie die Kraft, die Leidenschaft gefunden?«
Die Spuren des Massentodes waren noch allgegenwärtig, besonders in den zerstörten und schmutzigen »toten« Wohnungen, aus denen Maschkowa Bücher für die Öffentliche Bibliothek retten musste. Jede hatte eine eigene Geschichte des Todes, der Plünderei, des Selbstmords und der Kinder, die verhaftet, in Heime geschickt worden oder einfach verschwunden waren. Am 7. April 1943 besuchte sie drei derartige Wohnungen, von denen eine äußerst »typisch für Leningrad« war:
Einmal war es eine sechsköpfige Familie. Der Vater und die älteste Tochter brechen zur Roten Armee auf, und man hört nichts mehr von ihnen. Niemand weiß, ob sie tot oder lebendig sind. Die Mutter bleibt mit drei Kindern – dem achtjährigen geistig behinderten Boris, der dreizehnjährigen Lida und der fünfzehnjährigen Ljusja – in Leningrad zurück. Tapfer versucht sie, die Kinder vor den Klauen des Todes zu retten, aber es gelingt ihr nicht. Im Dezember stirbt Boris, im Januar Lida und dann, an Hungerdiarrhöe, die Mutter selbst. Damit ist nur noch Ljusja übrig – mit einer Abhängigenkarte in einer dunklen, kalten, ruinierten Wohnung, bedeckt von Schmutz und Ruß. Sie schleppt sich zum Markt, verkauft Sachen und beginnt – ein letzter Ausweg –, von den Nachbarn zu stehlen. Man ertappt sie mit gestohlenen Lebensmittelkarten und verhaftet sie; seit März letzten Jahres gibt es keine Nachricht von ihr. Vielleicht ist sie ebenfalls tot. Was bleibt, ist ein beängstigendes, dystrophisches Zimmer voll Dreck, Unrat und Ruß. Keine Familie, nur zwei leere Betten im Chaos – die einzigen Überreste einer früher gemütlichen Wohnung. Oh, wie vertraut das ist!
Auch Spuren des Terrors waren nicht zu übersehen. Maschkowa wurde im Februar und März viermal, immer spätabends, ins Große Haus vorgeladen. Eine erschöpfende Sitzung dauerte neun Stunden. Obwohl sie die Gespräche in ihrem Tagebuch nur kurz und vage erwähnt (»Ich kam zornig nach Hause; komplizierte Beziehungen habe ich satt«), dürfte man sie höchstwahrscheinlich aufgefordert haben, Freunde und Kollegen zu denunzieren.
Im Frühjahr schien ihr Leben erfreulicher zu werden. Am Ostersonntag beduselten sich ihr Mann und sie mit fünf Litern Bier und kauften sich Kleidung; am 1. Mai machten sie Frühjahrsputz, luden Freunde zum piroschki -Essen ein und hörten den Kindern in einem Schulkonzert zu. Aber Maschkowas Depression und Selbstekel lösten sich nicht auf.
Wie können wir die Kraft finden, glücklich, froh, ohne endlose Sorgen zu leben? Warum können die Kinder nicht die Grundlage für unser Glück sein? Schließlich sind sie gute Kinder, und wir sollten nur für sie leben. Warum können wir nicht die Angst unterdrücken, dass der Rest unseres Lebens nichts als Mühe und Anstrengung bringen wird? … Liegt es wirklich nur daran, dass uns ein Stück Brot und eine Schüssel Suppe fehlen? Sind unsere inneren Reserven wirklich so dürftig, dass dies alles andere um uns herum beeinflusst? 12
Häufige Luftangriffe
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