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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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landeten.
    Außerhalb Leningrads folgte das Leben im Schützengraben unterdessen einer stillen Routine. Südlich der Kirow-Werke wurden Besucher von den Soldaten mit hausgemachtem Sauerkraut und Salzgurken bewirtet. Am Wolchow schlief der Artillerist Wassili Tschurkin ausgiebig, pflückte wilde Himbeeren, schaute zu, wie sein General morgens mit Hanteln trainierte, und schrieb sein Tagebuch an einem Schreibtisch, auf dem eine Petroleumlampe, ein Tintenfass, ein Federkasten und ein Glas mit Wildblumen standen. Anderswo benutzten Soldaten Dynamit, um Brachsen und Hechte zu fangen, stellten Selbstgebrannten her, verwendeten angebundene Gänse als Wachtposten und schnitzten Messer aus den Plexiglasscheiben abgeschossener Flugzeuge. Auf der anderen Seite des Niemandslandes verbrachte Fritz Hockenjos seine Zeit damit, Vögel zu beobachten (der Soldat, der ihm von der ersten Lerche berichtete, wurde mit einem Schnaps belohnt), Fotos zu machen (Lieblingsmotive waren Kirchenruinen und verkohlte Bäume, die sich vor dramatischen Sonnenuntergängen abzeichneten) und eine streunende Katze zu sich zu nehmen, die er Minka nannte und die auf einem zusammengerollten Mantel neben seinem Kopf schlafen durfte. Seine Männer stellten komische Schilder auf – »Berlin 1400 km, Leningrad 3 km«; »Kein Trinkwasser«, wenn ihre Schützengräben überflutet wurden – und gaben den geschützten Ecken, in denen sie Karten spielten, die Namen schwäbischer Kneipen, etwa »Am Wilden Mann« und »Am Alten Fritz«. Nur durch ein paar hundert Meter mit Stacheldraht durchsetzten Schlamms getrennt, entwickelten die beiden Seiten eine gewisse Intimität: Sie begafften die Mädchen, welche die Unterstände der jeweils anderen Seite besuchten, scherzten miteinander – »Ihr gebt uns einen eurer Usbeken, und wir geben euch einen unserer Rumänen« – und trafen unausgesprochene Vereinbarungen darüber, wann und wo geschossen wurde. »Eines Nachts sind die Russen überall im Niemandsland, und wir warten vor dem Draht darauf, sie gefangen zu nehmen«, bemerkte Hockenjos, »und dann wechseln wir die Rollen in der nächsten Nacht.« 20 Er schrieb die Melodie von »Kalinka«, vermutlich dem Gesang russischer Soldaten nachempfunden, säuberlich auf die Rückseite eines Blattes mit Entfernungsmessdaten.
    Im September 1943, als die Wehrmacht bereits überall in der Mitte und im Süden des Landes zurückwich, begannen Hitlers Generale, auch den Rückzug von Leningrad zu befürworten. Da Panzer und Geschütze vorwiegend für die Verteidigung von Minsk und Kiew eingesetzt wurden, hegten sie keine Hoffnung mehr, eine volle Blockade wiederherzustellen, und die nördlichen Heere waren durch den Rückmarsch im Süden gefährlich entblößt, zumal eine wachsende Zahl von Partisanen nun regelmäßig Eisenbahngleise und Nachschubkonvois, wenn diese von den Hauptstraßen abwichen, in die Luft sprengte. (Der Chef der regionalen Partisanenorganisation behauptete in einer Meldung an Stalin vom 25. September, seine etwas über fünftausend Mann hätten 673 Straßen- und Eisenbahnbrücken gesprengt, 7992 Güter- und Flachbettwaggons zerstört sowie 220 Lagerhäuser, 2307 Lastwagen und Pkws, 91 Flugzeuge und 152 Panzer verbrannt. »Die Partisanen haben mich wieder durchgelassen«, schrieb Hockenjos sarkastisch nach seiner Rückkehr von einem kurzen Krankenhausaufenthalt in Narwa. 21 ) In sowjetischen Geheimdienstmeldungen wurde festgehalten, dass sich Zweifel in den unteren deutschen Rängen breitmachte. »Wir sollten unsere Zeit nicht auf diese Sumpflandschaft verschwenden«, erklärte ein gefangener deutscher Soldat seinen Vernehmern. »Sie sollten uns die Ukraine verteidigen lassen.« 22 Ein Deserteur aus der deutschen Garnison in Nowgorod behauptete, seine Offiziere widmeten ihre ganze Zeit dem Alkohol und dem Glücksspiel, während die einfachen Soldaten ihr Vertrauen in »eine Vernichtungswaffe« setzten, »die bislang ein großes Geheimnis ist«. Er selbst habe beschlossen, die Seiten zu wechseln, bevor er getötet werde. 23 Ein Dritter gab zu Protokoll, er habe seine Nachrichten immer von dem Koch in seiner Feldküche bezogen, »aber nun weiß er nicht mehr als wir. Wenn wir nicht über die Ereignisse an der Front unterrichtet werden, dann deshalb, weil es nicht so gut läuft. Russland ist zu groß, um von uns besiegt zu werden.« 24
    Obwohl Hitler den Finnen (die nun diplomatische Fühler nach Amerika ausstreckten) keinen Vorwand bieten wollte, sich wegen der

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