Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
Aufgabe Leningrads aus dem Krieg zurückzuziehen, ließ er sich teilweise überzeugen und gestattete dem Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Nord, Georg von Küchler, die Errichtung einer neuen defensiven »Pantherlinie« hinter der Narwa sowie dem Peipus- und dem Pskower See. Fünfzigtausend Arbeiter, hauptsächlich aus der örtlichen Bevölkerung herangezogen, errichteten sechstausend Bunker, verlegten zweihundert Kilometer Stacheldraht und gruben Schützengräben und Panzerfallen von vierzig Kilometer Länge. Die Linien der Heeresgruppe Nord verkürzten sich um ein Viertel, wobei sich eine Viertelmillion sowjetischer Zivilisten dem Rückzug anschloss – manche freiwillig, andere unter Zwang, damit sie nicht von der vorrückenden Roten Armee rekrutiert werden konnten (eine Bäuerin, bei der Hockenjos kurzfristig einquartiert war, packte geschwind ihre Sachen, was seiner Meinung nach nicht unbedingt ein Kompliment für die Deutschen war, sondern nur anzeigte, dass sie noch größere Angst vor den Bolschewiki hatte). Doch der Ring um Leningrad blieb so straff wie immer. Von Puschkin und den Pulkowo-Höhen aus wurde die Bombardierung der Stadt mit sinnloser Bosheit fortgesetzt. Die Opfer (zum Beispiel wurden im Dezember zwei Studentinnen im Erisman-Krankenhaus getötet) waren umso grausamer, als das Ende der Belagerung so offenkundig bevorstand.
Im späten September eroberte die Rote Armee Smolensk zurück, und am 6. November, nachdem sie den Dnepr geschickt und unbeobachtet überquert hatte, befreite sie Kiew gerade rechtzeitig zum Tag der Revolution. Im Norden waren General Goworows Pläne für die Befreiung Leningrads nun fast abgeschlossen. Die Offensive sollte drei Spitzen haben: eine östliche, die vom Oranienbaumer Kessel in Richtung Peterhof und Urizk vorstoßen sollte und in die heimlich 52000 Soldaten eingerückt waren; eine südliche von der Stadt selbst nach Puschkin und Pulkowo; eine westliche von Wolchow in Richtung Nowgorod. Infolge von Schdanows Bitten wurden zusätzlich 21600 Geschütze, 1475 Panzer, 1500 Katjuscha-Mehrfachraketenwerfer und 1500 Flugzeuge bereitgestellt. Mit fast zweimal so vielen Männern wie die Heeresgruppe Nord (1,24 Millionen, verglichen mit Küchlers 741000), mehr als doppelt so vielen Geschützen und über viermal mehr Panzern und Flugzeugen hatte Goworow nun zahlenmäßig eine überwältigende Überlegenheit. Die Lufthoheit war so umfassend, dass sich Lastwagenfahrer der Roten Armee nachts nicht mehr die Mühe machten, ihre Scheinwerfer abzublenden.
Der Angriff begann am Morgen des 14. Januar 1944 mit einem gewaltigen Beschuss aus Oranienbaum. Im dichten Nebel wurden in einer Stunde und fünf Minuten 104000 Granaten abgefeuert. »Wir können meinen Urlaub vergessen«, schrieb ein deutscher Offizier seiner Frau an jenem Abend. »Hier brodelt eine Schlacht, die alles Bisherige übertrifft. Die Russen rücken an drei Seiten vor. Wir machen die Hölle durch. Ich kann es nicht beschreiben. Wenn ich überlebe, erzähle ich dir später davon. Im Moment kann ich nur eines sagen: Wünsch mir Glück.« 25 Am nächsten Morgen folgte eine Attacke mit 220000 Geschossen auf Pulkowo, die eine Stunde und vierzig Minuten andauerte. Das Sperrfeuer und seine Erwiderung verblüfften die Leningrader, ließen den Verputz von den Decken bröckeln, Lampen hin und her schaukeln und eine der Werkhallen in Tschekrisows Werft zusammenbrechen. Die Menschen, in Unterständen und Treppenhäusern zusammengedrängt, beteten darum, dass dies wirklich das Ende sein würde. »Ich setzte mich zu Mama aufs Bett«, schrieb Olga Freudenberg am 17. Januar:
Ein schrecklicher Donnerschlag, eine Detonation. Ich schaute auf die Uhr, um die Intervalle zu verfolgen. Plötzlich erneut ein Donnerschlag, alles erschütternd, bereits ohne Detonation. Nebenan! Dann ein Donnerschlag wie ein Erdbeben. Das waren wir. Ich sah um mich, was nun wo geschah; im gleichen Augenblick fielen sämtliche Fensterscheiben heraus. Und die Januarkälte brach ins Zimmer herein.
Übernatürliche Kräfte wurden in mir wach. Ich packte den Pelzmantel, hüllte Mama hinein, zog das schwere Bett in den Flur, schob es in mein Zimmer. Dort war ein Fenster heil geblieben, das andere dichtete ich mit Stofflappen ab. 26
Anna Ostroumowa-Lebedewa verbrachte den 18. und 19. Januar ausschließlich im Badezimmer und versuchte, dem Pfeifen und Krachen außerhalb des Gebäudes standzuhalten. »Ich muss zugeben, dass der Beschuss meine Gedanken völlig aus der
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