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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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vier Krankenhäuser und ein Markt in Nowaja Derewnja (»Neues Dorf«) getroffen, einem altmodischen Arbeiterviertel mit Holzlagern und Baumschulen am Nordufer der Newamündung. Inber beobachtete, wie fünfzig Verwundete eingeliefert wurden: »Ein etwa siebzehnjähriges verwundetes Mädchen klagte immerzu, daß die Gummischnur, mit der man ihr das Bein umschnürt hatte, ihr wehtue. Man tröstete sie und sagte ihr, daß es bald leichter werden würde, dann betäubte man sie und amputierte das Bein. Als sie zu sich gekommen war, sagte sie: ›Jetzt ist es schön, jetzt schmerzt es nicht mehr.‹ Sie wußte nicht, daß sie das Bein nicht mehr hatte.« 11
    Vier Tage später, um halb elf an einem goldenen Herbstmorgen, landete eine riesige Bombe auf dem Gelände des Erisman, explodierte jedoch zum Glück nicht, sondern bohrte sich neben dem Brunnen in den Mittelhof des Krankenhauses. »Das Seltsame ist, dass ich den Aufprall kaum spürte«, schrieb Inber. »Meine erste Reaktion war, dass jemand eine schwere Tür zugeschlagen hatte.« Die angespannten zehn Tage, in denen Pioniere die Bombe entschärften, verbrachte sie damit, verwundeten Soldaten vorzulesen:
    Ich saß auf einem Hocker mitten in der Station und las laut eine Geschichte von Gorki vor. Plötzlich heulten die Sirenen, das Geräusch von Flakfeuer schien den ganzen Himmel zu erfüllen, eine Bombe krachte, die Fenster ratterten.
    Ich saß auf meinem Hocker und konnte mich nicht zurücklehnen, da ich keine Lehne hatte … umgeben von Fenstern und umringt von den Verwundeten – von hilflosen Menschen, die mich, die ich als Einzige gesund und mobil war, anschauten. Ich brachte all meine Willenskraft auf, ließ das Brummen des Flugzeugs vorbeiziehen und las weiter, wobei ich mich sorgte, dass meine Stimme vor Angst zittern könne. Als ich nach Hause kam, fühlte ich mich so geschwächt, dass ich mich hinlegen musste. 12
    Artilleriebeschuss, dachten viele, sei noch schlimmer als Bombenabwürfe, da ihm kein Alarm vorausging. Vom 4. September bis zum Jahresende beschoss die schwere Artillerie der Wehrmacht Leningrad 272 Mal, bis zu achtzehn Stunden hintereinander, mit insgesamt über 13000 Granaten. Besonders stark heimgesucht wurden die Fabriken im Süden der Stadt, darunter die mächtigen Kirow-Werke und das Kraftwerk Elektrossila, die beide knapp hinter der Front am Ende der Straßenbahnlinie 9 lagen. Die Anlagen von Elektrossilawarenbis Ende November 73 Angriffen ausgesetzt. 54000 Bewohner, dazu 28 Fabriken ganz oder teilweise, wurden aus unmittelbarer Schussweite nach Norden in Gebäude verlegt, die durch Evakuierung leer standen. Das Gerücht, dass manche Granaten nur mit Kristallzucker oder mit ermutigenden Schreiben mitleidiger deutscher Arbeiter gefüllt seien, war leider nur eine Erfindung.
    Die Gefahr vom Himmel blieb natürlich nicht die einzige Sorge der Leningrader, denn Mitte September schien der Fall der Stadt besonders nahe zu sein. Obwohl die Bürger nun das Donnern des Artilleriefeuers hören konnten, wussten die meisten immer noch nicht genau, wo sich die Kämpfe abspielten. Die Berichte von Sowinform waren so vage wie immer, weshalb gewitzelt wurde, die Nachrichtenagenturen OBS – Odna baba skasala (»Eine Frau sagte«) – und OMS – Odin major skasal (»Ein Major sagte«) – seien zuverlässiger. Dass die Front sehr nahe gerückt war, ließ sich sowohl an den Granaten, die auf den Straßen landeten, als auch an den Hunderten von Bauernfamilien ablesen, die mit ihrem Vieh an den Bahnhöfen lagerten. Noch mehr hätten das Stadtzentrum erreicht, wäre der Eisenbahnverwaltung nicht befohlen worden, die Flüchtenden am Besteigen von Vorortzügen zu hindern.
    Eine Nachrichtenquelle bildeten Tausende von Zivilisten, die sich freiwillig zum Bau von Verteidigungsanlagen in den Randgebieten der Stadt gemeldet hatten, darunter die siebzehnjährige Olga Gretschina. Nach einer unglücklichen Zeit als Buchhalterin in einer Munitionsfabrik, wo sie wegen ihrer Sanftheit und Unschuld drangsaliert worden war (»Du bist wie jemand aus einem Museum«, rügte ihr Chef sie), kehrte sie zum Ausheben von Gräben zurück: im Nordosten der Stadt, unweit des heutigen Piskarjowskoje-Gedenkfriedhofs. Die Bedingungen waren viel schwieriger als im Juli und die Stimmung finsterer:
    Es wurde rasch kalt, und obwohl der September gerade erst begonnen hatte, wachten wir bei Frosttemperaturen auf. Das Essen war schlecht: ein Eimer voll Suppe, hauptsächlich Linsen, um alle zu

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