Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
Lasarew die Sadowaja entlang, als in der üblichen Kakophonie aus Schiffsnebelhörnern sowie Polizei- und Fabriksirenen ein Luftschutzalarm ertönte. Er stand mit anderen Passanten unter einem Torbogen und hörte das Brummen von Motoren über sich. Zwar hatte er sich bereits an die silbernen Pünktchen von deutschen Aufklärungsflugzeugen hoch am Himmel gewöhnt, doch diesmal waren es stumpfnasige graue Bomber, zwanzig oder mehr, die in strikter, zielstrebiger Formation niedrig über die Dächer hinwegschwebten. Irgendwo in der Nähe begann ein Flakgeschütz zu bellen. Plötzlich war der Himmelstreifen zwischen den Dächern voll von funkelnden Leuchtspurgeschossen und weißen Rauchwölkchen, die sich rasch auflösten. Nach dem Alarm setzte Lasarew seinen Weg zur Wohnung eines Cousins an der Fontanka fort. Dort hatten sich seine Verwandten auf dem Balkon versammelt und schauten nach Süden. Jenseits der Biegung des Kanals stieg eine mächtige, kugelförmige Rauchwolke – hier und da schwarz und an anderen Stellen blendend weiß – empor. Allmählich breitete sie sich über den Himmel aus und nahm in der untergehenden Sonne einen Bronzeton an. »Sie hatte so wenig mit Rauch gemeinsam, und ich konnte lange nicht begreifen, dass es Feuer war. Ein ungeheures Schauspiel von betäubender Schönheit.« 1
Vera Inber und ihr Mann hatten, trotz der endlosen Alarme des Tages, das Theater für Musikalische Komödien (Muskomedija) am Platz der Künste aufgesucht, um sich Strauß’ Die Fledermaus anzusehen. Dazu hatten sie den Stellvertreter ihres Mannes im Erisman-Krankenhaus eingeladen: einen scharfsinnigen, klugen Mann mit einem amüsanten ländlichen Akzent. In der Pause wurde ein weiterer Alarm ausgelöst. »Ins Foyer kam der Geschäftsführer des Theaters und klar vernehmbar, in dem gleichen Ton, in dem er wohl anzukündigen pflegte, daß wegen Erkrankung eines Künstlers ein anderer einspringen müsse, teilte er mit: ›Das Publikum wird gebeten, sich an die Wände zu halten, denn wir haben hier (er wies mit den Händen auf den riesigen Plafond) keine Balkenlage.‹« Nach vierzig Minuten erklang die Entwarnung, und die Operette wurde fortgesetzt, wenn auch mit einem höheren Tempo und ohne einige der weniger wichtigen Nummern. Beim Verlassen des Theaters wussten Inber und ihr Mann immer noch nicht, dass es sich um mehr als den üblichen falschen Alarm gehandelt hatte. Zu ihrer Überraschung wartete ihr Chauffeur Kowrow auf sie, obwohl sie ihn nicht darum gebeten hatten. »Als der Wagen um den Platz bog, taten sich unserem Blick plötzlich wallende schwarze, von innen durchlohte Rauchmassen auf. Sie türmten sich zum Himmel auf, schwollen an, kräuselten sich und verästelten sich zu unheimlichen Gebilden. Kowrow wandte sich um und sagte tonlos: ›Die Deutschen haben Bomben abgeworfen und die Proviantlager in Brand gesetzt.‹« Lebensmittelspeicher, Heizölbehälter, eine Molkerei und achtunddreißig hölzerne Lagerhäuser – nach einem vorrevolutionären Besitzer »Badejew-Lager« genannt –, in denen ein erheblicher Teil der Nahrungsmittel der Stadt verwahrt wurden, standen neben dem Warschauer Bahnhof in Flammen. 2
Beim ersten großen Angriff waren Brandbomben abgeworfen worden: schmale, mit einem Spurkranz versehene Zylinder, die beim Aufprall zu schwelen begannen, wenn die Zivilschutzmannschaften, die auf den Stadtdächern Wache hielten, sie nicht mit Sand überschütteten. 3 Einen zweiten Angriff, am selben Abend um 22.34 Uhr, konnte niemand mehr für eine Übung halten. Die Flugzeuge warfen achtundvierzig hochexplosive Bomben mit einem Gewicht von 250 bis 500 Kilogramm ab, die vierundzwanzig Menschen, hauptsächlich in der Gegend des Smolny und des Finnischen Bahnhofs, töteten. Auch der Stadtzoo neben der Peter-und-Paul-Festung wurde getroffen. Ein Angestellter, ein Kind und siebzig Tiere kamen um, darunter die berühmte Elefantenkuh Betty, die sechs Jahre vor der Revolution aus Hamburg nach Petersburg gekommen war. Die Affen waren, wie ein Zoologe anmerkte, so traumatisiert, dass »sie ein paar Tage lang stumm, wie erstarrt, dasaßen und nicht einmal auf die überall einschlagenden Geschosse reagierten«. 4
Olga Berggolz wartete im Korridor ihrer Wohnung auf das Ende des Angriffs. »Zwei Stunden lang bebten meine Beine und mein Herz pochte, obwohl ich äußerlich ruhig blieb. Ich war nicht bewusst verängstigt, aber wie meine Beine zitterten – pfui!« Danach rannte sie sofort hinüber zum Rundfunkhaus,
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