Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
um sich mit ihrem Kollegen und Liebhaber Juri Makogonenko zu treffen. Sie liebte ihren behinderten Ehemann, wie sie ihrem Tagebuch anvertraute, und wusste, dass ihre Affäre mit Juri »eine Laune« war, doch sie wünschte sich »noch einen weiteren Triumph … Lasst mich ihn durstig, wahnsinnig, glücklich sehen … vor dem pfeifenden Tod.« Außerdem wollte sie ihre Arbeit trotz der unaufhörlichen Spannung zwischen der Liebe zu ihrem Land und dem Hass auf die Regierung fortsetzen: »Morgen muss ich einen guten Leitartikel schreiben. Aus tiefster Seele, mit dem, was noch von meinem Glauben übrig ist … Heutzutage fällt es mir schwer, zum Stift zu greifen, doch er bewegt sich, obwohl die Gedanken in meinem Kopf herumschwirren.« 5
Die Luftangriffe auf Leningrad wiederholten sich in unterschiedlicher Intensität während der gesamten Belagerung. Am heftigsten waren sie in den ersten Wochen, nahmen mit der Verlegung des 8. Luftwaffenkorps nach Moskau ab, ebenso mit dem Beginn der heftigen, Flugzeuge außer Gefecht setzenden Winterkälte, bevor sie im Frühjahr 1942 erneut einsetzten. Laut sowjetischen Quellen fielen während des Krieges 69000 Brand- und 4250 Sprengbomben auf die Stadt. Zwar war die Bombentonnage nicht annähernd so hoch wie in London, doch Leningrad war eine, geografisch gesehen, viel kleinere Stadt, die nicht nur aus der Luft, sondern auch zunehmend vom Land aus bombardiert wurde. Luftangriffe bei Nacht und Kanonenfeuer am Tag forderten einen unerbittlichen Tribut an Nerven, Schlaf und Menschenleben. Insgesamt wurden 16747 Zivilisten in Leningrad durch feindliches Feuer getötet und über 33000 verwundet. 6
Für die Jugend waren die Bombenangriffe zunächst recht aufregend. Igor Krugljakow, der Achtjährige, der am ersten Kriegstag zusammen mit seinem Vater und seinen Onkeln fotografiert worden war, machte es Spaß, zu sehen, wie Brandbomben am Mansardendach des Suworow-Museums herunterrutschten. Nach den Entwarnungen schlich er sich mit der Menge ohne Karte ins Kino und wetteiferte mit seinen Freunden beim Sammeln von Geschossfragmenten. Es galt die Regel: »Wer’s findet, darf’s behalten!« (selbst wenn das Fragment zu heiß zum Aufheben war), und er freute sich, als seine Familie in eine sicherere Parterrewohnung in einem anderen Gebäude zog, weil er nun die Schweine und Kälber streicheln konnte, die Bauernflüchtlinge im Hof eingepfercht hatten. Teenager, die in den schönen, erschreckenden Nächten Brandwache hielten, erlebten pubertäre Liebesgeschichten. »Einmal, bei einem Flirtspiel«, schrieb Klara Rachman nach einer Wachtschicht in ihrer Schule, »schickte Wowa mir einen Zettel mit der Frage: ›Was würde geschehen, wenn ich dir sagte, dass ich dich liebe?‹ Ich dachte, es sei bedeutungslos, aber er schrieb mir weitere Dinge dieser Art. Mir ist klar, dass es in unseren beängstigenden Zeiten albern ist, so etwas anzufangen, aber er machte den ersten Schritt … Am Ende des Abends begleitete er mich nach Hause. Ich fragte ihn, ob das, was er mir geschrieben hatte, wahr sei. Er bestätigte es.« 7
Professor Wladimir Garschin, Chefpathologe an Inbers Erisman-Krankenhaus (und Anna Achmatowas Liebhaber), hatte keinen derartigen Trost. Für ihn brachten die Angriffe einen neuen Leichentyp mit sich:
Formlose Brocken Menschenfleisch, gemischt mit Kleidungsfetzen und Ziegelstaub, alle beschmiert mit dem Inhalt von Eingeweiden. Verwandte strömten herbei, manche mit Gesichtern, die starr wie Masken waren, andere heulend und schreiend. Es war schwer, sie zu beruhigen und Fragen beantworten zu lassen, aber wir hatten keine andere Wahl, denn wir mussten Sterbeurkunden ausfüllen und Weisungen für die Beerdigung der Toten einholen. Diese Stunden und Tage im Leichenschauhaus nach Luftangriffen kann ich nie vergessen. Nicht die Leichen – in meiner jahrzehntelangen Arbeit habe ich viele gesehen –, sondern die Verwandten … In gewissem Grade war ich daran gewöhnt, einen Teil der Last an Kummer und Entsetzen zu übernehmen, doch damals ging es über meine Grenzen. Am Abend war die Seele gelähmt. Ich ertappte mich dabei, wie ich immer den gleichen mitfühlenden Gesichtsausdruck zur Schau trug und die gleichen Formeln benutzte. Solche Tage lassen dich mit dem Gefühl völliger Leere zurück. 8
Leningrad besaß kein U-Bahn-System, und die Regierung stellte nichts Vergleichbares wie die serienmäßig hergestellten Morrison- und Anderson-Unterstände bereit, mit denen sich Londoner während
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