Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
betroffen. »Es war ein seltsames Gefühl«, schrieb Vera Inber, wenn das
Telefon klingelte und eine frische junge Stimme sagte: ›Dieses Telefon ist bis Kriegsende nicht in Betrieb.‹ Ich versuchte, einen Protest zu organisieren, wusste jedoch im tiefsten Innern, dass die Sache sinnlos war. Innerhalb von Minuten klickte das Telefon und erstarb … bis zum Ende des Krieges. Und sofort schien die Wohnung tot, eingefroren und angespannt zu sein. Wir sind von allem und jedem in der Stadt abgeschnitten … Eine Ausnahme bilden nur ganz besondere Büros, Kliniken und Krankenhäuser. 22
Die Kontrollpunkte vervielfachten sich, und Straßen, auf die nationalsozialistische Flugblätter flatterten, wurden rasch abgesperrt. »Wir kommen nicht als eure Feinde, sondern als Feinde des Bolschewismus!«, hieß es auf einem. »Wenn eure Fabriken und Lagerhäuser verbrennen, werdet ihr verhungern! Wenn eure Häuser verbrennen, werdet ihr erfrieren!« Auch kam es zu neuen Razzien (3566 Festnahmen zwischen dem 13. und dem 17. September) gegen Deserteure der Roten Armee und der Volksmiliz, die, wie Tagebuchautoren vermerkten, die Stadt »überfluteten«. 23 In der ukrainischen Stadt Lwiw (Lemberg) hatte das NKWD alle Häftlinge erschossen, als sich die Wehrmacht näherte. In Leningrad evakuierte es sie lediglich in Arbeitslager innerhalb des Belagerungsrings, doch das Endergebnis war ähnlich. Die Überlebende eines Geleitzugs vom 9. Oktober erinnert sich an seine Reise:
Zwei Reihen von Bewachern des Konvois standen an Deck und trieben einen Strom von Häftlingen die Stufen hinunter in den Laderaum. In der dunklen Leere flackerte eine kleine Flamme. Dort stand ein Leutnant, stieß nach rechts und links Flüche aus und schlug mit einem Krockethammer zu, um alle so eng wie möglich unterzubringen. Die Menschen standen zusammengepresst da und umklammerten ihre Sachen. Eine lange Reihe von Häftlingen folgte mir.
Am Abend war der Laderaum gefüllt. Er bestand aus drei Abteilungen: einer für Männer mit ungefähr 3000 Menschen; einer für Frauen, von denen es etwa 800 gab; und einer kleinen Ecke, in die 200 deutsche Kriegsgefangene gequetscht waren. Hin und wieder versuchte ein keuchender Gefangener, ein wenig hinaufzuklettern, um etwas frische Luft zu schnappen. Sofort ertönten Schüsse, und der Unglückliche, der nicht nur Luft, sondern auch Blei geschluckt hatte, stürzte wieder die Stufen herunter …
Ein metallenes Hundert-Liter-Fass wurde an einem Seil durch die Luke herabgelassen. Eine Schar Häftlinge stürzte darauf zu. Die meisten hatten nichts, mit dem sie Wasser schöpfen konnten, deshalb benutzten sie ihre Hände.
[Im Lauf der Nacht] wurden die Verhältnisse noch schlimmer. Anfangs waren wir eng zusammengedrückt, doch wenigstens hatten wir auf dem Fußboden stehen können. Nun gab es mehr Platz, doch der Boden war unter Leichen verschwunden, und es war schwierig, nicht auf ihnen zu stehen oder zu sitzen. Außerdem begann es zu stinken … Als ich den Laderaum verließ, blickte ich mich um: Der Boden war komplett von einer dichten Schicht aus verwesenden Toten bedeckt. 24
Die Sicherheitsmaßnahmen brachten nicht alle Gegenstimmen zum Schweigen. Hakenkreuze tauchten über Nacht an Hofmauern auf; Flugblätter, die Stalin verurteilten und forderten, Leningrad zu einer ville ouverte nach Pariser Vorbild zu erklären – ein Euphemismus für Kapitulation –, wurden in Briefkästen gestopft und anonym an Parteiführer geschickt. Die verbreitete Erwartung der Niederlage kam in einem drastischen Rückgang der Anträge auf Parteimitgliedschaft zum Ausdruck – die Zahl war im September 1941 niedriger als im folgenden Februar, obwohl zu diesem Zeitpunkt mittlerweile täglich Tausende von Leningradern verhungerten. Durch die Abreise von Parteimitgliedern an die Front schrumpfte die Leningrader Parteiorganisation um die Hälfte: von 122849 Vollmitgliedern zur Zeit der Kriegserklärung auf 61842 bis Jahresende. Auch die Zahl der als »verloren« gemeldeten Parteiausweise nahm stark zu, obwohl wenige so naiv vorgingen wie ein Arbeiter in der Ochtenski-Chemiefabrik, der den örtlichen Parteisekretär aufforderte, seinen Namen aus der Mitgliedsliste zu streichen, »weil es dann nicht leicht herauszufinden sein wird, dass ich Kommunist bin«. 25
Die Unentschlossenen hatten gute Gründe für ihre Haltung. Aus den Archiven wird deutlich, dass Stalin nicht nur während der Krise Mitte September, sondern auch im Spätherbst und
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