Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
Molotowcocktails fehle, fuhr man in der Broschüre munter fort, seien Panzer »durch den entschlossenen und geschickten Gebrauch von Bajonett, Gewehrkolben, Messer, Brecheisen oder Axt« außer Gefecht zu setzen. 15 Überzeugender waren die Barrikaden, die mit Hilfe von »Stahligeln« und »Drachenzähnen« aus Beton sowie von Eisenträgern, Pflastersteinen und mit Sand gefüllten Straßenbahnwagen über die Hauptstraßen hinweg gebaut wurden, ebenso die teils zugemauerten Fenster, die als Schießscharten dienten. Georgi Knjasews Gebäude für Akademiemitglieder wurde von Matrosen besetzt, die eilig Sandsäcke trugen. Seine Frau und er zogen in sein Büro in der Akademie der Wissenschaften, wo sie unter einer Lenin-Büste auf Feldbetten schliefen.
Außerdem beobachtete Knjasew, dass die Matrosen, was er in seinem Tagebuch kaum zu erwähnen wagte, Treibsätze neben der Leutnant-Schmidt-Brücke (früher Nikolaus-Brücke) ablegten, dem westlichsten der beiden Übergänge, welche die Wassiljewski-Insel mit dem Festland verbinden: »An der Akademie der Künste erschütterte mich, daß die Matrosen in geringem Abstand voneinander kleine Gräben aushoben, etwas hineinpackten. Ziegel darüber schichteten und Sand darauf schütteten. Genau über den Sphinxen. Sollte wirklich …? Mir gab es einen Stich ins Herz.« 16 Wenn die Deutschen Leningrad besetzten, würde die Zerstörung der Infrastruktur und der Produktionsfähigkeit total sein. Der sogenannte Plan D, in dem alles aufgeführt war, was zerstört werden sollte, gelangte erst 2005 an die Öffentlichkeit. Inzwischen wissen wir, dass er sämtliche wichtige Fabriken der Stadt sowie alle Kraftwerke, Wasserwerke, Telefon- und Telegrafenzentralen, Bäckereien, Brücken, Eisenbahnnetze, Werften und Hafenanlagen umfasste, insgesamt rund 380 Objekte. (Alexej Kusnezow, Schdanows Stellvertreter, soll die Verminung des Schlosses Peterhof sowie die Entfernung von Maschinengewehren vom Dach der Eremitage angeordnet haben, die man für den Fall, dass Fallschirmjäger auf dem Palastplatz landeten, dort aufgestellt hatte.) In allen verzeichneten Institutionen musste eine »Troika« aus Direktor, Parteisekretär und NKWD-Vertreter Pläne für die Reihenfolge aufsetzen, in der Maschinen und Gebäude zerstört werden sollten, ebenso für die benötigte Sprengstoffmenge (oder, im Fall weniger wichtiger Objekte, für die Zahl der erforderlichen Äxte und Vorschlaghämmer). Der Befehl zur Einleitung dieser »Spezialmaßnahmen« sollte von Kusnezow erteilt werden, und für die Ausführung hatten die Bezirksstellen des NKWD zu sorgen. 17 Obwohl die Pläne unter höchster Geheimhaltung gefasst wurden, sickerten Gerüchte durch, welche die Arbeiter entsetzten. »Und was sollen wir tun, wenn die Fabriken gesprengt sind?«, fragte ein Mann seinen Freund. »Wir können ohne Fabriken nicht auskommen. Selbst wenn die Deutschen einmarschieren, müssen wir arbeiten, um zu essen. Wir werden sie nicht sprengen.« 18
Nicht wenige Fabrikchefs verließen ihren Posten, wie sich aus einer Flut von Verweisen und Entlassungen wegen »Feigheit«, »Panikanfällen«, Unterschlagung und unerlaubten Urlaubs ablesen lässt. In einer Mitteilung an führende Mitarbeiter von Industriebetrieben vom 5. September klagte Schdanow über einen Anstieg von Diebstählen und Veruntreuungen sowie von Forderungen mancher Paragrafenreiter nach Überstundenlohn. Der prominenteste Schuldige war der Direktor der großen Fabrik »Roter Chemiker«, der seinem Buchhalter befahl, 50000 Rubel abzuheben, der ein Auto beschlagnahmte und wohl entkommen wäre, wenn der Buchhalter nicht die Behörden alarmiert hätte. 19 Andere, wie der Erste Parteisekretär Nikonorow in Lodeinoje Pole, einem Städtchen östlich von Ladoga, ertränkten ihre Furcht im Alkohol. Statt den Zivilwiderstand gegen die heranrückende Wehrmacht zu organisieren, vermerkte ein entrüsteter Ermittler, »beschäftigte er sich damit, Massensauforgien unter Beteiligung führender Arbeiter zu veranstalten … Bei der Bezirkspolizei waren Trunksucht und Kartenspiele verbreitet; an beidem nahm Polizeichef Martynow persönlich teil.« 20 Bis Jahresende wurden 1540 städtischen Funktionären, die »des hohen Titels eines Mitglieds der Bolschewistischen Partei unwürdig waren«, die Parteiausweise entzogen. 21
Gleichzeitig straffte man zusätzlich die allgemeinen Sicherheitsmaßnahmen. Am stärksten waren die gewöhnlichen Leningrader von der Abschaltung ihrer Haustelefone
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