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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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der Luftangriffe schützten. Stattdessen flüchteten sich Leningrader in die Kesselräume und Treppenhäuser ihrer Wohngebäude oder in Gräben, die in öffentlichen Parks und auf Plätzen ausgehoben worden waren. Sie gewöhnten sich an immer wieder unterbrochene Nächte und Tage, daran, Tassen Tee halb ausgetrunken zurückzulassen, sich rasch Mäntel und Überschuhe anzuziehen, im Dunkeln auf Bänken, Matratzen und in überfüllten Kellern (»Ratten liefen wie Seiltänzer an den Rohren entlang«) zu dösen und dann zu einem kalten Ofen zurückzukehren. In den tieferen Kellergeschossen waren die Flugzeuge und Flakgeschütze kaum zu hören (etwa in der Eremitage, wo man allerdings daran zweifelte, dass Rastrellis Bögen den Bombardements standhalten würden), aber in den meisten Fällen machten Leningrader sich auf das lauter werdende Pfeifen jeder herabfallenden Bombe gefasst (»Man wollte sich in den Boden drücken«), auf das Dröhnen und den Donnerschlag von Aufprall und Explosion, gefolgt von dem lang gezogenen Getöse einstürzender Gebäude, dem Klirren von Glas und unablässigen Schreien. »Jeder denkt: ›Diese ist für mich bestimmt‹«, schrieb Berggolz, »man stirbt im Voraus. Du stirbst, und sie geht vorbei, aber eine Minute später kommt sie zurück, pfeift erneut, und du stirbst, wirst zum Leben erweckt, seufzt vor Erleichterung, nur um wieder und wieder zu sterben. Wie lange wird es dauern? … Töte mich mit einem Mal, nicht Stück um Stück, mehrere Male am Tag!« 9
    Die morgendliche Fahrt zur Arbeit – für diejenigen, die ihr Lager nicht permanent in ihren Fabriken oder Büros aufgeschlagen hatten – diente zum Abhaken vertrauter Wahrzeichen, die beschädigt oder zerstört worden waren. Von Bomben aufgeschlitzte Wohngebäude ähnelten Bühnenkulissen oder Puppenhäusern mit brutal entblößten Innereien: Sofas, Tapeten mit Kornblumenmuster, an Kleiderhaken hängende Mäntel. »Diese aufgerissenen Häuser«, bemerkte die stets analytische Lidia Ginsburg,
    legen das System ihrer Stockwerke, die dünnen Trennschichten der Fußböden und Zimmerdecken frei. Verwundert beginnt der Mensch zu begreifen, daß er in der Luft schwebt, wenn er zu Hause in seinem Zimmer sitzt; daß andere Menschen ebenso unter seinem Kopf und unter seinen Füßen schweben. Eigentlich weiß er das ja, er kann schließlich hören, wie über ihm Möbel hin- und hergerückt werden, sogar, wie man Brennholz hackt. Aber das alles ist abstrakt … Nun aber trat die Wahrheit mit schwindelerregender Anschaulichkeit zutage. Es finden sich auch durchsichtige Häuser, von denen nur noch die Fassade steht … Durch die leeren Fensterhöhlen der oberen Stockwerke kann man den Himmel sehen. Da finden sich Häuser, es sind vor allem die kleineren, deren Dachstuhl eingestürzt ist; darunter liegen nun Balken und Bretter begraben. Sie hängen windschief herunter, und es sieht aus, als wollten sie immer nur weiter einstürzen, endlos in die Tiefe stürzend wie ein Wasserfall. 10
    Vera Inber und ihr Mann zogen ins Erisman-Krankenhaus, wo sie sich ein kleines Zimmer mit zwei eisernen Bettgestellen, einem Kanonenofen, einem Schreibtisch, einem Bücherschrank und einem Kupferstich von Jenner bei seiner ersten Pockenimpfung zuteilten. Sie versuchten sich einzureden, dass die alten Pappeln vor den Fenstern sie vor Explosionen schützen würden. Inber, die vorher von den Ereignissen in Leningrad recht isoliert gewesen war – ihre Gedanken hatten eher ihren in Moskau zurückgelassenen Freunden und Verwandten gegolten –, befand sich von nun an im Mittelpunkt des Krankenhauslebens, das sie während der Belagerung gewissenhaft beschreiben sollte. Am 19. September, dem Datum eines der schlimmsten Angriffe bei Tageslicht (280 Flugzeuge warfen 528 Spreng- und ungefähr 2000 Brandbomben ab), besuchte sie eine alte Freundin aus Odessa, die heruntergefallenen Mörtel auffegte, während Tote und Verwundete aus dem Gebäude nebenan herausgetragen wurden. Es war ein großer Unterschied zu ihrer gemeinsamen vorrevolutionären Kindheit. »Ich erinnere mich an sie vom Herbst 1913 in Paris«, schrieb Inber am folgenden Tag. »Sie war so jung, so fröhlich, so attraktiv. Eine ganze Schar von uns ging auf irgendeinen Jahrmarkt. Wir aßen Kastanien, fuhren auf den Karussells und schauten uns Paris durch fallende Blätter an.« An jenem Tag schlugen Bomben im Gostiny Dwor ein (einem Kaufhaus am Newski-Prospekt) und töteten achtundneunzig Menschen; außerdem wurden

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