Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
Vom Netzwerk:
ernähren … Unsere Frauen erhielten weder Briefe von ihren Kindern in der Evakuierung noch von ihren Ehemännern an der Front.
    Eines Abends saßen wir im Zimmer unserer Hauswirtin und lauschten ihrer einzigen Aufnahme, Der kleine blaue Schal. Alle weinten untröstlich. Dieses banale Lied, das vor dem Krieg populär gewesen war, weckte so viele Erinnerungen. Für jede Frau war das Thema – die Trennung von geliebten Menschen – plötzlich sehr real geworden.
    Zweimal durften wir heimfahren, um uns zu waschen, denn viele von uns waren durch den Schmutz und die Kälte von Läusen befallen. Dies passierte mir zum ersten Mal, und ich war beunruhigt und angeekelt. Also borgte ich mir einen halben Liter Petroleum von einer Nachbarin (es war in den Läden bereits nicht mehr erhältlich) und rieb es mir ins Haar. Danach versuchte ich bis fast zwei Uhr morgens, es mit kaum noch warmem Wasser wieder auszuwaschen …
    Nach Heimatbesuchen kehrten die meisten in mürrischer Stimmung zu den Gräben zurück. Es wurde noch kälter, und wir buddelten in schrecklich schwerem blauem Lehm. Nur eine Schaufelvoll hochzuwuchten war anstrengend. Und als die dumme Tanka anfing, Penisse aus dem Lehm zu formen, war es nicht mehr witzig, und die anderen ärgerten sich über sie.
    Doch die vulgäre Tanka gab der behüteten, etwas snobistischen Gretschina die erste von vielen Lektionen über die Tugenden der Arbeiterklasse in der sozialistischen Republik. Tanka überredete sie, den Wächtern auszuweichen und zwei Säcke Kartoffeln von einem verlassenen Feld zu stehlen. Auf der Straßenbahnfahrt in die Stadt mit ihrer Beute fand Gretschina heraus, dass Tanka eine verwitwete Mutter und eine schwerbehinderte Schwester versorgte. Durch eine brennende Fabrik wurde die Straßenbahn zum Halten gezwungen, und die beiden mussten zu Fuß weitergehen. »Ich war erschöpft«, erinnerte sich Gretschina, »und wollte meinen Sack fallen lassen, aber Tanka sagte: ›Bist du verrückt geworden?‹, und wuchtete ihn sich auf den Rücken. Nun begriff ich, wie unreif mein Urteil über andere gewesen war.«
    Am 14. September erhielt die Brigade den Befehl, nach Leningrad zurückzukehren. Gretschina suchte die Philologische Fakultät der Leningrader Universität auf, wo sie ein Studium hatte beginnen wollen. Aber das akademische Leben kam ihr mittlerweile schwelgerisch und naiv vor. »Wie kann man denn bloß über abstrakte Begriffe diskutieren, wenn alles in der Umgebung von Feuern und Bomben bedroht ist? Ich fühlte mich wie eine arbeitende Person, die sich plötzlich in der Gesellschaft von Müßiggängern wiederfindet.« Sie verließ die Vorlesung vor dem Ende, ging in die Mensa und löste Lebensmittelkarten gegen Pferdefleisch und Kascha ein. 13
    Sogar von öffentlichen Stellen wurde nun eingeräumt, dass sich die Stadt in unmittelbarer Gefahr befand. Am 16. September, einem Tag horizontalen Regens, an dem Puschkin aufgegeben wurde, brachte die Leningradskaja prawda einen geradezu hysterischen Leitartikel, den Schdanow selbst geschrieben hatte: »Der Feind steht vor den Toren! Wir werden bis zu unserem letzten Herzschlag für Leningrad kämpfen. Jeder muss der Gefahr fest ins Auge sehen und sich klarmachen: Wenn er heute nicht selbstlos und tapfer für die Verteidigung der Stadt kämpft, werden morgen seine Ehre, seine Freiheit und seine Heimstatt verloren und er selbst zum Sklaven der Deutschen geworden sein.« Am folgenden Tag brachte die Zeitung die schwerfällige Schlagzeile: »Leningrad – Sein oder Nichtsein?« 14 Fabrikmilizen wurden für selbstmörderische Straßenkämpfe ausgebildet. »Die Zerstörung eines Panzers«, hieß es in einer Anleitung,
    wird in erster Linie durch Geistesgegenwart, Mut und Entschlossenheit herbeigeführt. Man darf nicht zaudern, sondern muss Schnelligkeit und Kühnheit an den Tag legen … Der Kämpfer sollte, nachdem er eine geeignete Deckung gesucht hat [Laternenpfähle, Poller und Werbeplakate wurden vorgeschlagen], den Panzer bis auf 10–15 Meter herankommen lassen (in dieser Entfernung befindet sich der Kämpfer in einem toten Winkel, so dass der Feind nicht auf ihn feuern kann), dann schnell aus der Deckung hervorspringen, das Bündel Granaten unter die Raupenketten werfen und genauso schnell wieder in Deckung gehen. Genau die gleiche Technik ist mit brennbaren Flaschen anzuwenden – mit dem einzigen Unterschied, dass die Flasche auf den hinteren Teil des Panzers geworfen wird.
    Wenn es an Granaten oder

Weitere Kostenlose Bücher