Blondes Gift
los? Warum machte dieser Kerl um fünf Uhr morgens eine Dame im Zug an? Das gehörte sich nicht. So einer verdiente doch eine Ladung ins Gesicht.
Das Mädchen mit dem Schulranzen rutschte über den Sitz, näher ans Fenster.
Inzwischen hatte Angela, die am anderen Ende des Zuges an der Tür lehnte, ihr Handy hervorgeholt und wählte die Nummer der Polizei. Sie hatte sich vor so vielen Mitarbeitern des fünfzehnten Reviers befummelt,
dass die unverzüglich und entschlossen reagieren würden. Sobald der Zug die Endstation erreichte, konnte sich dieser Wichser auf was gefasst machen.
Und wenn er trotzdem zu ihrem Ende des Wagens kam, würde sie ihm die Seele aus dem Leib prügeln.
Sie war darauf vorbereitet und hatte kein Problem damit, ihm was auf die Nase zu geben.
Am anderen Ende des Wagens knallte Jack gegen die Verbindungstür. Er tastete nach dem Griff. Er wusste, dass er sich im allerersten Wagen befand. Aber vielleicht waren in den anderen Waggons mehr Leute. Er konnte versuchen, mit dem Brennen in Augen und Gesicht klarzukommen. Sich in die Nähe mehrerer Menschen setzen. Und durchhalten. Durchhalten bis zur Endstation. Und hoffen, dass er sein Sehvermögen wiedererlangte. Dann irgendjemandem folgen. Bis in die Nähe eines Taxis.
Der Griff gab nach. Die Tür sprang auf. Jack stürzte hindurch. Geriet ins Taumeln. Er streckte die Arme aus und klammerte sich an eine der dicken, verschmierten Ketten.
Schon spürte er das Kreischen in seinem Blut, das Pochen in seinem Kopf.
Der Zug wurde erneut langsamer. Das Quietschen der Bremsen dröhnte in seinem Schädel. Da. Der Türgriff. Drück ihn runter. Öffne ihn öffne ihn öffne ihn.
Jack stolperte. Wo eine stählerne Plattform hätte sein sollen, war nichts. Sein Fuß trat ins Leere, ins Leere, ins Leere …
5:20 Uhr
K owalski erreichte den Bahnsteig, als die Zugtüren gerade anfingen, sich zu schließen. Am Kassiererhäuschen wurde er aufgehalten. Zwei beschissene Dollar für eine U-Bahn-Fahrt? Der Kassierer, ein fetter Mann, der wahrscheinlich mit einem Gabelstapler in das Häuschen gehievt werden musste, deutete auf einen Fahrscheinautomaten auf der anderen Seite der Station. Klar. Als ob die Zeit dafür noch reichte. Kowalski schob dem Typen einen Zehner rüber und sagte ihm, er solle das Restgeld behalten, um sich Slim-Fast dafür zu kaufen. Er sprang über das Drehkreuz, um Zeit zu sparen.
Die Türen schlossen sich.
Aber er schaffte es ins Innere.
Fast.
Sein linker Unterarm ragte aus der Tür.
Der Arm, mit dem er die Sporttasche hielt, in der sich Eds Kopf befand.
»Gleich bin ich am Arsch«, sagte Kowalski laut.
Frankford-Bahn, hält an allen Stationen. Nächster Halt Church Street.
Der Zug raste weiter. Wenn er es nicht schaffte, die Hand zusammen mit der Tasche in den Wagen zu ziehen, würde sie gegen das Metallgatter am Ende des Bahnsteigs knallen. Das in, oh, wenigen Sekunden auf seiner Höhe wäre. Und wahrscheinlich seinen Unterarm in der Mitte zerteilte. Vielleicht würde es ihn
auch nicht ganz durchtrennen. Egal, es würde garantiert ziemlich wehtun. Und was noch schlimmer war, er würde Ed verlieren. Er hatte ihn doch nicht die ganze Nacht mit sich rumgeschleppt, um ihn jetzt auf dem Bahnsteig einer Hochbahn zurückzulassen.
Der Zug wurde schneller.
»Ich bin echt am Arsch«, sagte Kowalski.
Und er war nicht der Typ, dem so was leicht über die Lippen kam.
Mit ganzer Kraft schleuderte Kowalski die Tasche in die Luft und zielte dabei Richtung Zugdach, auf die Mitte des hinteren Teils. Ein stechender Schmerz durchzuckte sein Handgelenk. Vielleicht war es eine spontane Entscheidung gewesen, aber Kowalski glaubte, dass er die Bauart dieser Waggons kannte. Er war mal vor Jahren in Korea damit gefahren. Soviel er wusste, hatte die Stadt Philadelphia sie gebraucht von den Koreanern gekauft und renoviert – oder auch nicht.
Auf jeden Fall hatte die Klimaanlage auf dem Dach in der Mitte des Gehäuses eine größere Vertiefung. Groß genug, um eine Sporttasche mit einem abgetrennten Kopf aufzufangen. Wie einen Baseball in einem Lederhandschuh.
Kowalski wusste das, weil er mal vor Jahren auf dem Dach eines koreanischen U-Bahn-Waggons hatte mitfahren müssen. Tja, die ruhmreiche Vergangenheit.
Andererseits war er kein U-Bahn-Experte. Vielleicht bildete er sich die Sache mit den hiesigen Waggons
auch nur ein und das hier war ein ganz anderes Modell.
Im letzten Moment zog Kowalski seine Hand nach innen; er konnte spüren, wie die
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