Blood - Ein Alex-Cross-Roman
nahm sanft ihre Hand in meine beiden.
Einen Augenblick lang wirkte sie sehr durcheinander und verwirrt, dann machte sie die Augen wieder zu. Tränen rannen ihr über die Wangen, ich hätte beinahe selbst angefangen zu weinen, aber dann dachte ich, dass Kayla vielleicht Angst bekommen könnte, wenn sie mich so sah.
»Alles in Ordnung«, sagte ich. »Jetzt ist es vorbei. Du kannst dich ausruhen.«
»Ich hatte … solche Angst«, sagte sie und klang dabei wie
ein junges Mädchen − eine liebenswerte Seite an Kayla, die mir bisher verborgen geblieben war.
»Das glaube ich«, erwiderte ich und zog mir einen Stuhl heran, ohne dabei ihre Hand loszulassen. »Bist du denn noch selbst hierhergefahren?«
Sie lächelte tatsächlich, auch wenn ihr Blick nach wie vor ein wenig unbeständig wirkte. »Ich weiß doch, wie lange es in dieser Gegend dauern kann, bis der Notarztwagen kommt.«
»Wer hat das getan?«, wollte ich dann wissen. »Weißt du, wer das war, Kayla?«
Als Reaktion auf meine Frage machte sie erneut die Augen zu. Meine freie Hand ballte sich zur Faust. Wusste sie, wer sie überfallen hatte, hatte sie Angst davor, es auszusprechen? War Kayla bedroht worden, nichts zu sagen?
Schweigend saßen wir einen Augenblick lang da, bis sie sich stark genug fühlte weiterzusprechen. Ich würde sie in dieser Frage nicht unter Druck setzen − nicht so, wie ich es mit der armen Mena Sunderland gemacht hatte.
»Ich war gerade bei einem Hausbesuch«, sagte sie schließlich mit geschlossenen Augen. »Die Schwester dieses Kerls hat mich angerufen. Er ist ein Junkie. Wollte den Entzug zu Hause machen. Als ich angekommen bin, war er vollkommen von Sinnen. Ich weiß nicht, für wen oder was er mich gehalten hat. Er ist mit dem Messer auf mich los …«
Ihre Stimme versiegte. Ich strich ihr die Haare glatt und legte ihr meinen Handrücken an die Wange. Ich habe schon öfter mit eigenen Augen gesehen, wie zerbrechlich das menschliche Leben sein kann, daran gewöhnt man sich nicht, und außerdem ist es etwas ganz anderes, wenn jemand betroffen ist, der einem so nahe steht.
»Bleibst du bei mir, Alex? Bis ich eingeschlafen bin? Geh nicht weg.«
Da war sie wieder, ihre Kleinmädchenstimme. Noch nie hatte Kayla verletzlicher gewirkt als jetzt, in diesem einen, flüchtigen Augenblick im Aufwachzimmer. Der Gedanke an sie und an das, was ihr zugestoßen war, während sie versuchte hatte, Gutes zu tun, brach mir das Herz.
»Aber natürlich«, sagte ich. »Ich bleibe hier. Ich gehe nicht weg.«
77
»Ich bin jetzt schon eine ganze Weile depressiv, wie Sie wissen. Niemand weiß das besser als Sie.«
»Über zehn Jahre. Das ist in der Tat eine ganze Weile, Alex.«
Ich saß meiner Lieblingsärztin gegenüber, meiner persönlichen Psychoklempnerin Adele Finaly. Darüber hinaus fungiert Adele außerdem von Zeit zu Zeit als meine Mentorin. Sie hat mich ermutigt, wieder eine eigene Praxis zu eröffnen, und sie hat mir sogar ein paar Patienten vermittelt. »Versuchskaninchen«, wie sie sie gerne nennt.
»Ich muss Ihnen ein paar Dinge erzählen, die mich sehr stark beschäftigen, Adele. Das kann mehrere Stunden dauern.«
»Kein Problem.« Sie zuckte mit den Schultern. Adele hat hellbraunes Haar und ist etwa Anfang vierzig, aber seitdem wir uns kennen gelernt haben, scheint sie kein bisschen älter geworden zu sein. Sie ist momentan nicht verheiratet, und immer wieder ertappe ich mich bei der Vorstellung, wir beide könnten ein Paar werden. Doch ich verdränge diese Bilder jedes Mal sofort wieder. Viel zu bescheuert, viel zu verrückt .
»Solange Sie in der Lage sind, diesen etliche Stunden dauernden Blödsinn auf fünfzig Minuten zu komprimieren«, fuhr sie fort. Sie ist und bliebt eine elende Besserwisserin, und das ist genau der Ton, den man mir gegenüber anschlagen muss.
»Das kriege ich hin.«
Sie nickte. »Dann fangen Sie mal an. Die Uhr läuft.«
Ich begann mit dem, was Kayla zugestoßen war und wie es mir damit ging, einschließlich der Tatsache, dass sie zu ihren Eltern nach North Carolina gefahren war, um sich dort von den Folgen des Überfalls und der Operation zu erholen. »Ich glaube nicht, dass es meine Schuld ist. Also fühle ich mich auch nicht schuldig, weil sie überfallen worden ist, nicht direkt jedenfalls.«
So gut Adele auch sein mochte, konnte sie nicht verhindern, dass ihre Augenbrauen sich hoben und so ihre Gedanken verrieten. »Und indirekt?«
Ich nickte mit dem Kopf. »Ich fühle mich ganz generell
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